Mick Morris Mehnert, David Butt Philip, Elena Tsallagova. Foto: Monika Rittershaus
BERLIN / Deutsche Oper: DER ZWERG – letzte Vorstellung der Premierenserie, 12.4.2019
“Der Sultan sandte einen Zwerg als Spiel der grausamen Natur. Er hinkt, die Haare sind feurige Borsten, der Kopf hockt zwischen den Schultern, die zu hoch. Ihn beugt eines Höckers Last, klein und verwachsen die ganze Gestalt, vielleicht kaum über zwanzig Jahre alt, vielleicht wie die Sonne. Ein Ruf als Sänger eilt ihm voran aus fernem Land.” Don Estoban, der Haushofmeister
Alexander von Zemlinskys Oper „Der Geburtstag der Infantin“ oder „Der Zwerg“) basierend auf dem gleichnamigen Märchen von Oscar Wilde aus der Sammlung ,Granatapfelhaus‘ ist eine brutal sadistische Geschichte um (künstlerische) Selbstwahrnehmung im Kontrast zu einer nur die Oberfläche kratzenden Außensicht, grausame normative Ausschlusskriterien der Gesellschaft und exotische Blüten erotischer Attraktion. Am 24.3. dieses Jahres feierte das einaktige Wiener Jugendstilmusikdrama an der Deutschen Oper Berlin in der Regie von Thomas Kratzer Premiere. Diesmal nicht gekoppelt mit einem anderen Operneinakter, sondern in kompakt eineinhalb Stunden ohne Pause mit einem 10-minütigen Prolog auf Musik Arnold Schönbergs (Begleitmusik zu einer Lichtspielscene für Orchester Op. 34 aus dem Jahr 1929) angedacht.
Man kann sogar am eigenen Spiegelbild sterben, wie unser kleinwüchsiger Held am Ende der Oper. Vom türkischen Sultan einer verwöhnten Göre zum 18. Geburtstag geschenkt, weiß dieses gelangweilte wohlstandsverwahrloste Geschöpf nicht Besseres zu tun, als nach einer kurzen verführerischen Nummer den singenden „Zwerg“ mit der nach landläufigen gesellschaftlichen Regeln nicht verhandelbaren Wahrheit seiner eigenen Hässlichkeit zu konfrontieren. Und auch das nicht selbst, sondern die Amme muss dem Gedemütigten den Spiegel vorhalten, den verbalen Rest besorgt die spanische Thronfolgerin mit gehässigen Schaum vor dem Mund selbst. Der Künstlerheld ist aber auch nicht ganz schuldlos an dem Deasaster: Er hält sich für einen edlen, wohlgestalteten Ritter. Fazit: Tja, wer Unangenehmes massiv verdrängt, wird die Erkenntnis der Realität am Ende nicht aushalten. Das also ist die Moral von der Geschicht‘.
Der Regisseur sieht das zur Oper gewordene Märchen des zu kurz geratenen Sängers und sklavischen Hofnarren – wie aus dem psychoanalytisch gefärbten Librettos des Georg C. Klaren als auch dem die private Beziehungskiste vom Alma Mahler und Alexander von Zemlinsky reflektierenden Prolog hervorgeht – nicht zuletzt durch autobiographische Erfahrungen des Komponisten ausgelöst, maß Zemlinsky doch selbst ca. nur 1,56m. Die verwundete Männlichkeit des Abgewiesenen samt der ersehnten musikästhetischen Bestätigung wirft die Frage nach Status und Ranking des kreativ Schaffenden auf.
Darauf baut Kratzer seine Arbeit, der im Interview von Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild spricht: „Bei fast allen Figuren im Stück klafft weit auseinander, wie sie wahrgenommen werden wollen, wie sie denken, wahrgenommen zu werden – und wie die anderen sie wirklich wahrnehmen. Diese Art von „schizophrenem Riss“ ist natürlich bei der Figur des Zwerges am extremsten.“ Folgerichtig gibt es zwei Figuren auf der Bühne: den Tenor David Butt Philipp und als doppelbödiges Alter ego den kleinwüchsigen Schauspieler Mick Morris Mehnert.
Bühnenbildner Rainer Sellmaier hat den Bühnenraum zu einem mit 12 Büsten gesäumten Kammermusiksaal des Königs, eine Art „privater Elbphilharmonie“ gewandelt. Der Regisseur meint dazu: „Damit ist der Raum ein abstrakter Schauplatz, an dem sich Kunst ereignet und der jeden, der sich darin bewegt, automatisch in ein Verhältnis zur Kunst setzt.“ Dieser kahle ungemütliche weiße Raum samt Kostümen, historisierend im Prolog, modern nüchtern in der Oper, sollen der irisierend schillernden Musik lediglich als eine den klanglichen Eindruck schärfende Folie dienen. Damit dürfe die Musik und ihre genuine Wahrheit in den Mittelpunkt des Dramas rücken. So weit die Theorie. Wie seht und hört sich das in natura an?
Der Prolog, der uns eine ganz großartige Filmmusik Schönbergs zu einem Film, der nie gedreht wurde, vorführt (Begleitmusik zu einer Lichtspielscene für Orchester, Op. 34) ist eine derb zynische Pantomime. In einem Salon, Marke üppig verschnörkelte Belle Époque, werden zwei Mimen beim Klavierunterricht aufeinander losgelassen: Alma Mahler (hier darf die Frau von Donald Runnicles, Frau Adelle Eslinger, eine wunderbar überspannte Matrone im roten Spitzenkleid spielen) und Alexander von Zemlinsky (Evgeny Nikiforov) betatschen einander, bis das gar nicht zimperliche Almscherl den Lehrer auf den Boden stößt, verhöhnt und entschwindet. Diese der Oper unmittelbar vorgeschaltete szenische Ouvertüre hat zwar dramaturgisch nichts mit der Oper zu tun, gefällt aber in der überdrehten Ironie der Darstellung und der enormem musikalischen Qualität der kurzen Komposition von Zemlinskys Schwager Schönberg.
Der szenische Hauptgag des Stücks ist die Doppelung des Zwergs in einen stattlichen Sänger (David Butt Philipp) und einen Schauspieler. Das klappt ganz gut am Beginn, wo der Sänger an der Rampe singt und der großartige Mick Morris Mehnert noch in völliger Unschuld der Infantin seine Liebe anträgt. Allerdings nimmt diese Konstellation im großen Liebesduett viel von der direkten Spannung während der Konversation des Paars, wenn die Sängerin der Infantin zwar mit dem Mimen spielt, aber den Sänger meint. Bewegend wiederum der Schluss, wo der Sänger seinen Doppelgänger voller Horror im Spiegel erblickt und ihn später kurzerhand erdrosselt.
Insgesamt ist szenisch als auch musikalisch von einem dichten und packenden Opernabend zu berichten.
Die Musik Zemlinskys ist mehr 19. Jahrhundert als Neue Wiener Schule. Anklänge an Wagner (Blumenmädchenszene Parsifal, Rheingold) oder Richard Strauss (Salome) sind unüberhörbar. Aus heutiger Sicht wird dieser eklektische Charakter der Komposition durch die spezifische Duftmarke des Komponisten mehr als aufgewogen. Nicht nur Alban Berg konnte es, nämlich sich an der „unendlich süßen und überströmenden Melodik“ laben, sondern auch das heutige Publikum in Berlin. Zemlinskys Musik eignet sich in ihrer spezifisch herben Schönheit ähnlich wie etwa „Salome“ von Richard Strauss‘ besonders dazu, Abgründe und Klüfte menschlicher Existenz beinahe körperlich erfahrbar zu machen. Das unabwendbare Schicksal der explosiven Figurenmischung wird so in ein blutrotes seelisches Klangschlachtengemälde gekleidet, die sadomasochistische Grundstimmung und widerstreitenden Ängste und Wünsche der Protagonisten lassen auch das Publikum an der Deutschen Oper Berlin nicht unbeteiligt.
Donald Runnicles in seinem zehnten Jahr als GMD der Deutschen Oper ist nach wie vor eher geschickter Ordner romantischer Klangentfaltung denn tiefenscharfer Soundmagier. Er entlockt dem Orchester der Deutschen Oper Berlin eine gewisse Bandbreite an genüsslich sinnlichem Leuchten, bisweilen jedoch in deftiger Geste über diverse Feinheiten der Instrumentierung wischend.
Mick Morris Mehnert, Elena Tsallagova. Foto: Monika Rittershaus
Eine gute bis sehr gute Sängerschar hievt das Drama auf stramme Beine. Elena Tsallagova als verwöhnt kaltschnäuziges Geburtstagskind Donna Clara singt ihre Partie technisch tadellos. Allerdings bieten das sachlich monochrome Timbre und die steife Rollengestaltung nur wenig an emotionaler Vielfalt. Bei den Damen schießt daher auch in der Gunst des Publikums Emily Magee als ihre Zofe Ghita den Vogel ab. Höchst differenziert und mit prächtig obertonreich-dramatischem Sopran macht sie allen Hader an dem Befehl der Chefin, dem Zwerg doch endlich den Spiegel vorzuhalten, glaubhaft. Rührend ihre Bestürzung angesichts des Todes des Zwergs: “Gott hat ein armes Herz zerbrochen, es war schön.”
Die sängerisch beste Leistung des Abends bringt der phänomenale Tenor von David Butt Philipp in der Titelpartie. Von lyrischen Piani über charaktervollen Zwischenfachgesang bis zum imponierenden heldischen Auftrumpfen, alles funktioniert prächtig. Der britische shooting Star hat sich mit dieser immens schwierig zu singenden Partie einen ganz persönlichen Erfolg ersungen. Bravissimo.
Philipp Jekal als Haushofmeister Don Estoban singt allenfalls rollendeckend, enttäuscht aber mit einem kleinkalibrigen, in der Tiefe nicht expansionsfähigen Bariton ohne Glanz.
Die Zofen (Flurina Stucki, Amber Fasquelle und Maiju Vaahtoluoto) würden auch als Mägde in ‚Elektra‘ oder als Rheintöchter eine gute Figur machen und stimmlich aufhorchen lassen.
Der Damenchor (Einstudierung Jeremy Bines) könnte an rhythmischer Präzision und Wohllaut zulegen. Allerdings sind die Kostüme der Gespielinnen der Infantin als gackernde Hofgesellschaft wahrlich köstlich.
Berlin hat jedenfalls wieder einmal einen großen Opernraritätenabend zu bieten. Mir ist die Zeit wie im Flug vergangen, das Publikum hat seinem Dank differenzierten Ausdruck verliehen. Allergrößten Jubel für Butt Philipp, Morris Mehnert und das Orchester, herzlich aufbrausenden Applaus für die formidable Magee, korrekten Zuspruch für Tsallagova.
Dr. Ingobert Waltenberger