BERLIN / Deutsche Oper: ANDREA CHENIER – dritte Aufführung der Serie, 18.1.2020
Repertoire-Perle mit Martin Muehle als Bilderbuch-Chenier
Der Deutsch-Brasilianer Martin Muehle wird in der Premiere von „Pique Dame“ an der Deutschen Oper Berlin im Mai dieses Jahres den Hermann singen. Im Jänner ist es vorerst einmal die Verismo Revolutions-Oper Andrea Chenier des Umberto Giordano, der er mit seinen ungemein sicheren metallischen Höhen, der Passion seines Vortrags und der romantischen Glut seines Spiels den Stempel aufdrückt.
In der wunderbar ästhetisch und dramaturgisch sinnvollen Produktion des John Dew (Bühne Peter Sykora) aus dem Jahr 1994 kann, wenn die Besetzung stimmt, große Oper stattfinden. Das riesige auf Stelzen stehende Parkett, auf dem der Adel noch die Gavotte tanzt, kippt wie der Schiffsrumpf der Titanic zu einem gesellschaftlichen und politischen Fanal, an dessen Ende die Guillotine Köpfe sonder Zahl rollen lässt.
Bevor es soweit ist, haben die Zuschauer in der Bismarckstrasse das Glück, drei großartige Stimmartisten in den Hauptrollen erleben zu dürfen. Der Russe Roman Burdenko als Carlo Gérard verfügt über einen in allen Lagen ausgeglichenen Prachtbariton, heldisch grundiert mit ebenso zart bewegten Tönen, wenn es im dritten Akt um das Wohl seiner immer schon angebeteten Madeleine geht. Mag es rhythmisch in ersten Akt noch etwas hapern und die Darstellung ein wenig in der Schablone steckenbleiben, gilt die uneingeschränkte Bewunderung einer fulminanten Gesangsleistung, die eine großformatige Stimme mit Ausdruck und Seele eint.
Anja Harteros ist eine im ersten Akt noch verhalten agierende Madeleine Coigny. Dann aber singt die um ihre Liebe wie eine wilde Tigerin kämpfende Diva ganz und gar außerordentlich. Auf dem Spiel steht nicht weniger als ihr und ihres Dichters Leben. So überzeugend und leidenschaftlich wie in den letzten drei Akten an diesem Abend habe ich Anja Harteros überhaupt noch nie gehört. Die Akuti sitzen mühelos, das Vibrato ist edel, die große berühmte Arie „La mamma morta“ gelingt schlichtweg plattenreif. Als Figur wächst sie in dieser Repertoirevorstellung über sich hinaus und stürzt sich in das Schlussduett, als gäbe es wirklich kein Morgen mehr. Grandios.
Kongenial an ihrer Seite der Andrea Chenier des Martin Muehle. Mit dem blendenden Aussehen eines Hollywood Stars (George Clooney könnte neidisch werden) hat er hörbar Franco Corelli bestens studiert. Nicht das schlechteste aller Vorbilder, würde ich meinen. Das „Improvviso – Un dì all’azzurro spazio“ und die elegische Arie im vierten Akt „Come un bel dì di maggio“ werden zu Glücksmomenten für jeden noch begeisterungsfähigen Melomanen. Beckmessern könnte man über die eine oder andere Unsauberkeit in der Intonation oder nicht „unendlich“ gehaltene Phrasen. Die totale Rollenidentifikation und das beeindruckende Stimmmaterial lassen das Publikum am Ende zu Recht einen Riesenjubel anstimmen.
Die Oper Andrea Chenier kann als großen Vorzug neben den so immens emotionalen Momenten mit einigen berührenden Genreszenen aufwarten, die auch einigen kleineren Rollen die Gelegenheit geben, markantes Profil zu zeigen. Positiv zu erwähnen wären hier in erster Linie Annika Schlicht als persönlichkeitsstarke und stimmlich potente Contessa di Cogny (wer bringt dieser exzellenten Sängerin bei, das Konsonanten im Italienischen nicht behaucht werden dürfen?), aber auch Ronnita Miller als berührende blinde Madelon, Dong-Hwan Lee als orgelnder Revolutionär Matthieu und vor allem der junge vielversprechende schön timbrierte und kraftvolle Bariton Padraic Rowan in der Rolle des Roucher. Enttäuschend und kaum rollendeckend ist lediglich Anna Buslidze als Bersi.
Francesco Angelico dirigierte das klangschön und doch irgendwie robust klingende Orchester der Deutschen Oper Berlin. Im heiklen ersten Akt hätte der um symphonische Üppigkeit bemühte Dirigent wegen des akustisch problematischen Bühnenbilds die Dezibel des Orchesters zum Wohle der Sänger zurücknehmen müssen. Zu loben ist ausdrücklich, dass der junge Maestro, der einige Jahre lang wichtige musikalische Positionen in Tirol inne hatte, den großen Gefühlen des Werks vertraut und den Höhepunkten der Partitur in breitem „Cinemascope-Format“ ausreichend Raum gibt.
Das ekstatische Schlussduett „Vicino a te“ gerät zu einem jener intensiven Opernmomente mit Gänsehaut, die Freunde dieser Kunstform stets sehnsüchtigst zu erleben hoffen. Fazit: Unglaublicher Jubel am Ende der Vorstellung für ein sichtlich dankbares Ensemble, das alles gegeben hat.
Dr. ingobert Waltenberger