Das Deutsche Theater Berlin geht nach draußen, 10.06.2020
Draußen spielen, genau vor dem Deutschen Theater, ist nun die Devise dieser Berliner Traditionsbühne. Um den Abstand von 1,50 Metern zu wahren, können dort 75 Fans an den entsprechenden Abenden jeweils um 19.30 das Ein-Mann-Stück „Die Pest“ live erleben – wenn sie schnell genug beim Online-Buchen waren.
Deutsches Theater, Božidar Kocevski in Die Pest, Foto Arno Declair
Gleich in den ersten Minuten waren die Tickets – mit einer Schutzgebühr von 5 Euro – komplett ausverkauft. „Evtl. Restkarten an der Abendkasse“, ist im Internet zu lesen. Bei Regen fallen die Vorstellungen ganz aus.
Das Werk, das im November 2019 in der Spielstätte Box Premiere hatte, wurde nach dem berühmten Roman von Albert Camus geschaffen. Durch die Corona-Pandemie erhält es eine unerwartete und erschütternde Aktualität.
Wer nun aber meint, auch von der Straße her einige Blicke auf die Vorstellung erhaschen zu können, sollte sich den Weg sparen. „Wir haben eine Wand aufgestellt, um das zu verhindern“, sagt Intendant Ulrich Khuon. Nicht weil er den Ticketlosen das Gratis-Zuschauen missgönnt. Es geht ihm nur um die Abstandswahrung. „Mit dieser Schutzwand sollen Menschenansammlungen verhindert werden“, erklärt er.
Deutsches Theater, Božidar Kocevski in Die Pest, Foto Arno Declair
Zuvor schon hatte ein Stream dieses Stückes tief beeindruckt. „Das war ein starker digitaler Aufschlag“, lobt Khuon. Denn der habe nicht die gefilmte Premiere geboten, sondern sei speziell für die Anforderungen des Streamens entwickelt worden.
Immer wieder fuhr die Kamera ganz dicht an das Gesicht des Schauspielers Božidar Kocevski in der Rolle des Arztes Bernhard Rieux heran. Vor allem das Spiel seiner Augen ließ erkennen, wie schnell und wie furchtbar sich diese Seuche in der algerischen Küstenstadt Oran verbreitete und jeden Tag mehr Menschen tötete. Ganz so genau lässt sich seine Mimik unter dem lichten Abendhimmel nicht erkennen.
Diese Anmerkung irritiert Ulrich Khuon keineswegs. „Das Digitale ist eine andere Spielart und kann das live-Geschehen nie ersetzen. Das Theater hat einen eigenen Stil.“
Ulrich Khuon, Intendant vom Deutschen Theater Berlin, Foto Klaus Dyba
Andererseits sei durch die Ausgangsbeschränkungen in der Corona-Krise die digitale Machart zu einer Selbstverständlichkeit geworden. „Die simple Abfilmung von Stücken genügt jedoch nicht. Diese neue Kunstform muss eigene Wege gehen und eine eigene Form finden. Wenn das geschieht wird sie zu einem guten und ergänzenden Mittel des Bühnengeschehens“, betont Khuon.
In diesem Zusammenhang verweist er sogleich auf das Projekt RADAR OST DIGITAL, ein 3D-Theaterfestival vom 19.-21. Juni, das das analog geplante internationale Festivalwochenende ersetzt. Auf diese Weise öffnet das Deutsche Theater Berlin seine Türen indirekt für ein internationales Publikum in der Ferne.
Auf drei Bühnen sowie in acht weiteren Räumen des Theaters findet parallel Theaterkunst aus Osteuropa und Russland statt, über 50 Stunden nonstop bei freiem Eintritt. Das Publikum kann auch daheim die Theaterproduktionen aus der Ukraine, Ungarn, Russland und Tschechien erleben und außerdem Lectures, Konzerte, Chats und Workshops. Darüber hinaus werden herausragende Inszenierungen von Kirill Serebrennikov, Ewelina Marciniak und Timofej Kuljabin erstmals einem deutschsprachigen Publikum vorgestellt und in voller Länge im Livestream gesendet (www.radarost.digital).
Gibt es auch eine Openair-Fortsetzung für das so sichtlich begehrte live-Erlebnis? Khuon will tatsächlich noch etwas draufsatteln und draußen etwa ab Mitte August das äußerst beliebte Jugendstück „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf zeigen. Drinnen läuft es seit Jahren und ist stets ausverkauft. Khuon kann das bieten, da ihn – im Gegensatz zum Berliner Ensemble – in nächster Zeit keine Baustelle behindern wird. Baumaßnahmen machen auch bei weiteren Berliner Theatern das Draußen-Spielen unmöglich.
Und drinnen? Ulrich Khuon ließ keine Stühle ausräumen. „Dann muss ich sie später ja wieder hineintragen lassen“, lautet seine Begründung. Lieber soll, solange die Abstandswahrung nötig ist, das Publikum entsprechend locker platziert werden. Im Deutschen Theater selbst stünden so zunächst 135 Plätze zur Verfügung, in den benachbarten Kammerspielen 50.
Sollten die Abstände von den Behörden auf 1 Meter gesenkt werden, ergäbe das fast 200 Plätze fürs große Haus sowie 60-70 für die Kammerspiele, zumal die Lüftung in beiden Sälen optimal sei. In der gemütlichen Box sei sie das nicht, so dass diese momentan nicht genutzt werden könne.
Wie seine Kollegen setzt auch Khuon zunächst auf relativ kurze Stücke. Dafür ist schon lange René Pollesch der richtige Autor. „Melissa kriegt alles“, lautet der Titel seines neuen Stückes. Die Uraufführung ist für den Beginn der Spielzeit 2020/21 geplant.
Ursula Wiegand