Berlin: Das Berliner Ensemble macht mobil und spielt draußen live, 9.6.2020
Oliver Reese, graue Jeans, blaues Hemd, steht schon im Hof hinter den Theaterbauten vom Berliner Ensemble und begrüßt lächelnd die Gäste.
Oliver Reese, Intendant vom Berliner Ensemble, 9.6.2020, Foto Ursula Wiegand
Für ihn, den Intendanten des BE, ist es ein Freudentag, genau wie für die Zuschauer und Zuschauerinnen, die nach rd. dreimonatiger Pause endlich wieder Schauspiel live erleben.
Geboten wird die Generalprobe von „BUSSI BaBAAL – EINMAL BAAL TO GO“ im vor einigen Tagen errichteten Hof-Theater. „Wir haben Glück, dass wir hier genug Platz haben, um so etwas machen zu können“, freut sich Reese.
Denn gratis und draußen heißt zu Corona-Zeiten die Lösung, um Abstand wahrend endlich wieder vor Menschen spielen zu können. „Es ist ein „amuse gueule“, ein „Gruß aus der Küche“ und ein Geschenk fürs Publikum“, lächelt Reese. Schon am 19. Mai bei der Vorstellung des Spielplans 2020/21 hatte er betont: „Wir wollen unbedingt wieder spielen, dies ist unser Auftrag“.
Es ist ihm offensichtlich auch eine Herzensangelegenheit. „Ab dem 10. Juni sind nun drei Wochen lang – immer von Mittwoch bis Sonntag stets um 18:00 Uhr – jeweils fünf rund einstündige Aufführungen zu sehen, die sich die Ensemble-Mitglieder – 180 von insgesamt 200 sind in Kurzarbeit – ausgesucht und zurechtgemacht haben“, erläutert Reese. An den Montagen startet der Online-Ticketverkauf für die jeweilige Woche. „Damit habe jeder und jede die Chance, dreimal mit dabei zu sein.
Allerdings zeigte die sogleich explodierende Nachfrage, dass die Interessenten stets blitzschnell sein und Glück haben müssen, um ein Ticket zu ergattern. „Ja, die Theaterfans sind uns treu geblieben“, schmunzelt Reese.
Auch weiterhin müssen sie Glück haben, wenn sie Reeses Vorschlag folgen und nach der Aufführung im BE-Hof-Theater gleich noch das Stück „DIE PEST“ anschließen möchten, das nahebei auf dem Platz vor dem Deutschen Theater gespielt wird. In Zeiten wie jetzt sei Kooperation nötig.
Oliver Reese, Intendant vom Berliner Ensemble, 9.6.2020, Foto Ursula Wiegand
Ebenso nötig ist auch weiterhin die unvermeidliche Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Oliver Reese ist Realist und hatte schon im März vorausgesagt, dass sämtliche Aufführungen mit Publikum in großen Räumen bis zum Beginn der Sommerpause 2020 wg. der Corona-Pandemie ausfallen müssen. So kam es und nicht nur in Deutschland.
Auch beim Blick auf die Spielzeit 2020/21 bleibt Reese realistisch. „Die Pläne für die nächste Spielzeit mussten in den letzten Wochen völlig neu gedacht und organisiert werden“, hatte er schon im Mai geäußert und sogleich die Zahl der Stühle im großen Saal von 700 auf 200 reduziert. Angeordnet sind sie nun Abstand wahrend als Einzelsitze oder paarweise. Also special seats.
„Wir müssen anders hören und sehen“, fügt Reese nun hinzu. Umgewöhnen müssen sich auch die Theaterfans. Relativ kurze Stücke müssen es sein, 2 ½ Stunden maximal, denn es gibt keine Toilettenpause. Das würde wegen der Abstandsbedingungen viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen“, stellt Reese klar. An den Wochenenden gäbe es jedoch Doppelvorstellungen, folgt als Trost auf dem Fuße.
Wie aber wird Frank Castorf, der Spezialist für 6- und 7-Stünder, der am BE eine neue Heimat gefunden hat, damit klarkommen? „Das muss er selbst regeln“, meint Reese trocken.
Wie sind denn die Aussichten für die Neuinszenierung von Brechts „Dreigroschenoper“ durch Barrie Kosky, dem Chef der Komischen Oper? „Die Premiere ist erst am 21. Januar 2021, und wir hoffen, dass dann vielleicht wieder der Normalbetrieb möglich ist. Und wenn nicht? „Barrie macht das auf jeden Fall. Wenn dann noch zeitlich gekürzt werden muss, kriegt er das garantiert hin“, betont Reese.
Er selbst inszeniert die Uraufführung von „GOTT“, ein Stück von Ferdinand von Schirach. Zeitgleich mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus sollte das Werk schon im April Premiere haben. Corona bedingt ist es auf den 10. September verschoben worden.
Eigentlich ist es dadurch genau das richtige Stück zur richtigen Zeit, geht es doch um einen alten Menschen, der nach dem Tod seiner Frau keinen Lebenswillen mehr besitzt und die Hausärztin um Beihilfe zum Suizid bittet, was sie jedoch ablehnt. „Schirachs neues Stück passt sehr gut in die jetzige Zeit, geht es darin doch um wichtige moralische Fragen, wie das Recht auf Selbstbestimmung und die Verantwortung der Ärzte“, sagt Reese und eilt nun zur Probe. Ursula Wiegand
BUSSI BaBAAL – EINMAL BAAL TO GO
Derweil sitzt eine Frau im schwarzen Anzug an einem Gartentisch. Ihre gelben Socken passen zur Farbe des Stuhls. Das ist wohl eher zufällig, doch es ist kein Zufall, dass sie – die Powerfrau Stefanie Reinsperger – bei Oliver Reeses „Grüßen aus der Küche“ die erste Portion serviert, hier als Generalprobe.
Die zum Kinn hinunter gezogene Gesichtsmaske muss ich zum Interview nicht wieder korrekt hochziehen. „Wir haben ja den richtigen Abstand, so groß wie ein Babyelefant“, lacht Stefanie Reinsperger.
Stefanie Reinsperger, Berliner Ensemble, 9.6.2020, Foto Ursula Wiegand
Wie bitte? „So verdeutlicht man in Österreich, wie groß ein Abstand von 1,5 Meter in etwa ist“, lacht die charmante Frau aus Baden bei Wien, die nach Engagements am Wiener Burgtheater und dem dortigen Volkstheater seit der Spielzeit 2017/18 zu den Stars am Berliner Ensemble gehört.
Die Frage, ob die Babyelefanten in Österreich in der Breite, der Länge oder der Höhe gemessen werden, bringt sie zum Lachen, doch beantworten kann sie das nicht. Die nächste Frage aber sofort: ob sie nach der dreimonatigen Spielpause vielleicht etwas nervös oder aufgeregt sei? „Ich bin sehr, sehr, sehr, sehr aufgeregt“, platzt es aus ihr heraus.
„Diese drei Monate waren eine so ungewöhnlich lange Zeit, das war nichts Normales, da kamen mir sogar Zweifel, ob ich alles so wie bisher wieder leisten kann. Das war noch viel schlimmer als der Wiederbeginn nach der üblichen Sommerpause“. Ein erstaunliches Bekenntnis einer ungeahnt sensiblen Powerfrau, die stets in allen Rollen brilliert.
Doch sie hat sich davon nicht unterkriegen lassen. „Ich habe mir zwei Stücke genommen und sie daheim laut gelesen, um meine eigene Stimme zu hören.“ Und sie hat sich Bertolt Brechts „BAAL“ für ihren Beitrag zum Hof-Theater gewählt. Anfang September 2019 hatte das Stück in Großen Saal Premiere, mit ihr als Frau in der Titelrolle.
Den Dreistünder hat sie selbst auf rund eine Stunde gekürzt und ihn in BUSSI BaBAAL – EINMAL BAAL TO GO umbenannt. Warum hat sie sich gerade den Baal ausgesucht? Der sei ein Egomane und eine gespaltene Persönlichkeit. Das auch in der Kurzversion herauszuarbeiten, hat sie gereizt.
„In fünf Minuten waren alle Tickets für die erste Woche ausverkauft“, strahlt sie. Das macht Mut.
Stefanie Reinsperger, Berliner Ensemble, 9.6.2020, Foto Ursula Wiegand
Nun aber geschwind auf die Hof-Bühne. Sie kuschelt sich noch kurz auf das am Boden liegende Plüsch-Zebra und legt dann mit gewohnter Vehemenz los. Ganz allein bestreitet sie die Aufführung, doch von Aufgeregtheit keine Spur. Stefanie Reinsperger ist wieder in ihrem Element, auch und gerade in dieser Männerrolle.
Also singt sie sogleich von Sperma, Urin und Schweiß und auch davon, dass dieser sexgierige Baal laut Brecht eigentlich unser Stellvertreter sei, der sich – fast ständig besoffen – traut, unsere geheimen Lustträume zu leben.
Tanzend zeigt sie außerdem den begabten jungen Dichter, der jedoch heuchelt und meuchelt sowie den hemmungslosen Frauenhelden, der eine Keusche verführt und so in den Suizid treibt.
Ab und zu knautscht sie auch einen großen fleischfarbenen Penis. In der Inszenierung von Ersan Mondtag ist der ein Teil einer sehr großen Barbiepuppe. Andererseits neigt dieser Baal zum Selbstmitleid und besitzt sogar eine romantische Ader. Erschöpft von Sex und Suff bricht er schließlich tot auf dem Plüsch-Zebra zusammen.
Ohne Stefanie Reinspergers Glanzleistung würde mich dieses Brecht-Stück kaum interessieren. Doch wie sie mehrere Personen in unterschiedlichen Situationen mit sekündlich wechselnder Mimik und Gestik verkörpert, fasziniert ungemein.
Per saldo hätte ich den kompletten „BAAL“ drinnen im Saal vermutlich nicht so intensiv wahrgenommen wie an diesem Vorsommerabend unter alten Bäumen. Mit eigener Euphorie nach der Zwangspause hat das nichts zu tun. „In der Kürze liegt die Würze“, wussten schon unsere Vorfahren.
Entscheidend für diesen Eindruck ist die gelungene Reduzierung auf das Wesentliche. Dieser „Gruß aus der Küche“, schauspielerisch perfekt abgeschmeckt, ersetzt ein ganzes Menü. Stefanie Reinspergers BAAL TO GO beschert mir statt Völlegefühl das bekömmlichste Theatererlebnis seit vielen Jahren.
Die weiteren Appetithäppchen heißen „AUCH ZWERGE HABEN KLEIN ANGEFANGEN IHR WALDENTEN UNSERES VOLKES!“, „BONNIE OHNE KLEID“, „VON POP BIS BAROCK“ und „DER LEBENSLAUF DES BOXERS SAMSON-KÖRNER“, ein Stück aus dem Repertoire. Wohl bekomm’s! Nur regnen darf es nicht. Bei Regen fallen die Vorstellungen aus.
Ursula Wiegand