BERLIN / Chamäleon: WOLF – Sensationelle Uraufführung mit der australischen Kompanie CIRCA; 5.9.2024
Raubtierisch gut!
Copyright: Andy Phillipson
Zu lasch, zu fatalistisch, zu mutlos? Dann brauchen Sie einen Schub an Risikolust und Adrenalin. Da hätte ich was für Sie: Das poetische Bewegungstheater für zeitgenössischen Zirkus Chamäleon, eine Berliner Institution in den Hackeschen Höfen, feiert gemeinsam mit der umtriebigen wie passionierten Intendantin Anke Politz sein stolzes 20-jährige Jubiläum. Als besonderes Geburtstagsgeschenk für Theater und Publikum gibt es nun die Uraufführung der Gemeinschaftsproduktion „Wolf“ mit dem australischen, ebenfalls 20 Jahre jungen Ensemble CIRCA. Direktor Yaron Lifschitz hat mit dieser Arbeit ein Mehr an Kraft, mehr Energie und keine Kompromisse versprochen: „Wir möchten das Publikum 90 Minuten lang im Innersten bewegen. Als Circa ist uns Unterhaltung wichtig, aber wir machen kein gefälliges Theater. Wir möchten intensive Erfahrungen zügelloser Energie und authentischer Schönheit schaffen, manchmal witzig, manchmal sexy, manchmal seltsam.“
Und das alles ist ihm, der zehnköpfigen Kompanie und dem Theater in wahrlich spektakulärer Weise gelungen. Zudem noch mehr, denn mit dieser Produktion, die das schöne wie gefährliche Wildtier Wolf als Bezugspunkt für die conditio humana nimmt und so poetisch furios wie Charles Baudelaires Dichtkunst wirkt, können wieder das Kind im Erwachsenenpublikum als auch das ungläubige Staunen, die offenen Münder in einem Berliner Theater Urständ feiern. Seit meiner ersten Kasperlaufführung im Wiener Urania Puppentheater als Fünfjähriger habe ich nicht mehr so intensiv gebangt, begeistert dem Treiben auf der Bühne gefolgt und mit den Bühnenakteuren gezittert wie an diesem Abend.
Lassen wir zum wild hämmernden, elektronischen Soundtrack des Komponisten, Schlagzeugers und DJ Ori Lichtik den Wolf in uns selbst erwachen. Der canis lupus wurde lange Zeit verfolgt und fand Eingang in unzählige Mythen und Märchen, wie etwa Rotkäppchen von den Gebrüdern Grimm. Er ist ein Riechtier mit einem ausgeprägten Sozial- und Territorialverhalten. Die schönen Räuber haben sich mittlerweile auch in Deutschland wieder angesiedelt.
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In „Wolf“ vollführen zehn begnadete Körper aus den Disziplinen (Luft)Akrobatik, Turnen, Trampolinspringen und Tanz in schwarz-beigen Trikots von Libby McDonnell einen unfassbar komplexen und dauererregten Reigen an dynamischer Bewegung. Sie springen ausgelassen durcheinander und türmen sich zu Riesenskulpturen, belauern und umwerben einander, eifersüchteln, wenn zwei sich zu nahekommen, tollen frenetisch wie die sprichwörtlichen Welpen herum, purzeln und wirbeln durch die Lüfte, dass einem der Atem stockt. Ob Soli am Seil oder Pas de deux, das gegenseitige Beschnuppern und Rangeln artet schon mal in kraftvolles Aufeinanderprallen und Fletschen der Zähne aus.
Jon Bonaventura, Holly-Rose Boyer, Helga Ehrenbusch, Scott Grove, Sam Letch, Daniel O´Brien, Luke Thomas, Shani Stevens, Georgia Webb, Christina Zauner, so heißen die Künstlerinnen und Künstler aus Circa, formieren sich mitsammen zu einem Rudel rotglühend auf das Publikum gerichteter Augen und geschmeidig ineinander fließender Körper, solidarisieren sich und verbinden apotheotisch „Instinkt und Emotion, Raserei und Sinnlichkeit“ zu einem Finale, das den ganzen Saal spontan von den Stühlen reißt.
Dazu bleiben neben all den vielen haarsträubend gewagten Salti und Rollen, Stürzen aus der Höhe, Spagat sowie Hand auf Hand Banquine Nummern – viele davon finden parallel und in hohem Tempo statt – Soli und Gruppen-Acts in Erinnerung, die ich so noch nie in meinem Leben gesehen habe und das artistisch Mögliche um ungeahnte Dimensionen erweitern.
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Gleich zu Beginn schwingt sich Jon Bonaventura aufs Seil und lässt seinen Körper stetig in Zeitlupe virtuos verschnörkelt herabgleiten, sodass der Eindruck entsteht, er schwebt frei und schwerelos in der Luft. Sie kennen sicher alle möglichen Figuren, wo mehrere Personen auf den Schultern eines Akrobaten stehend balancieren. Aber haben sie schon mal eine junge Akrobatin, die ganz und gar erstaunliche Helga Ehrenbusch, gesehen, die gleich drei Männer zugleich vom Boden hebt? Ohne uncharmant zu sein, aber viel weniger als 300 Kilo bringen die drei gestandenen Kraftlackl nicht auf die Waage. Ebenso spektakulär: Georgia Webb, die auf dem Bauch liegend zwei auf ihrem Rücken stehende Kolleginnen zuerst in den Vierfüßerstand hievt und sodann mit den beiden auf dem Rücken balancierend aufsteht, ohne dass jemand runterfällt oder umkippt. Einfach sagenhaft gut, genauso wie Christina Zauner, die mit an der Decke fixierten Bändern jegliche Schwerkraft leugnend derart furios durch die Lüfte wirbelt, dass das Publikum kollektiv den Atem anhält. Ich hebe explizit diese drei so kraftvollen wie elegant alle Mühen spielerisch wirken lassenden Akrobatinnen hervor, weil sie für mich die großen Stars des Abends sind.
Generell sind die Präzision der Choreografie (ich wundere mich, wie man sich die vielen pausenlos aufeinander folgenden Kombinationen merken kann), die pantomimische Ausdruckskraft aller, aber auch das faszinierende, weil energiestrotzende und freudvolle Miteinander von Circa zu bewundern. Wie viel tägliche harte Arbeit dahinter steckt, das kann man nur erahnen.
Selbstüberwindung, sich etwas (zu)trauen und in mit Leidenschaft und Ausdauer errungenen Höchstleistungen das Beste aus sich herausholen, das Positive der sonderbaren Spezies Mensch hervorkehren, lachend den Lebenswillen feiern: Das ist es, was das Theaterwunder „Wolf“ den täglichen Messerstechereien, der barbarischen Abmurkserei allerorts und der tödlichen Banalität blinder kriegerischer Vernichtung entgegenhält.
Die Olympischen Spiele in Paris sind vorbei, die Paralympics werden am 8. September ebenda zu Ende gehen. Im Chamäleon kann man noch bis zum 5.1.2025 tänzerisch-akrobatische Spitzenleistungen von muskulösen Wölfinnen und Wölfen zu fantastischer Musik, die jeden Berliner Berghain-geher entzücken wird, auf nicht minder olympischem Niveau bestaunen.
Hingehen, was Besseres bekommen sie derzeit auf Berliner Bühnen nicht zu sehen! Dazu wird bis November die Videoinstallation aus realen und grafischen Elementen des sympatischen Videokünstlers und Motion Designers Flo Stanger in den Hackeschen Höfen zu erleben sein. Ob sie „verspielt, klonkig oder gar skurril“ sind, wie Stanger sagt, das mögen sie selbst beurteilen. Technische Finesse und Liebe zum Detail hat der Künstler jedenfalls nicht missen lassen.
Hinweis: 2025 wird Chamäleon mit der jungen kanadischen Kompanie People Watching und der Produktion „Play Dead“ in einer speziell für das Chamäleon Berlin überarbeiteten Inszenierung aufwarten. Termine: Previews: 16. Januar – 29. Januar 2025, Premiere: 30. Januar 2025, Spielzeit: 16. Januar – 31. Mai 2025, VVK-Start: Mitte Oktober 2024. In den beiden Sommer-Monaten Juni und Juli 2025 kehrt Gravity & Other Myths mit „A Simple Space“ zurück.
Fotos: ©Andy Phillipson
Dr. Ingobert Waltenberger