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BERLIN / BERLINER FESTSPIELE Philharmonie Berlin: LES TROYENS – Halbszenische Aufführung von Hector Berlioz‘ Grand Opera in fünf Akten

02.09.2023 | Oper international

BERLIN / BERLINER FESTSPIELE Philharmonie Berlin: LES TROYENS – Halbszenische Aufführung von Hector Berlioz‘ Grand Opera in fünf Akten; 1.9.2023

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Schlussapplaus. Foto: Fabian Schellhorn

Funkelnder Meilenstein in der Berlioz Rezeption mit Dinis Sousa, dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique und dem Monteverdi Choir

Liebe versus Staatsraison, das heißt die Dialektik von kollektivem und individuellem Glück, steht im Fokus von Berlioz‘ Opus summum „Les Troyens“. Berlioz hatte mit seinem Vater Vergils „Aeneis“ schon als Kind gelesen. Das „wilde Weh“ dieser Lektüre ließ ihn nicht los. Allerdings zweifelte der selbst nach dem trojanischen Helden Hector benannte Komponist – verzagt durch allzu viele Misserfolge – an der Akzeptanz des Stoffs durch das französische Publikum. Erst durch gutes Zureden von Franz Liszt und der Fürstin Caroline von Sayn-Wittgenstein machte sich Berlioz 1856 ans Werk, wobei er die Musik wie Richard Wagner auf ein selbst verfasstes Libretto, diesfalls nach dem ersten, zweiten und vierten Buch der „Aeneis“, schrieb. 1860 war es soweit: Mit über 6.500 Takten Musik oder viereinhalb Stunden netto Aufführungsdauer lag die klassizistische Partitur zu der damals gewaltigsten und längsten musiktheatralischen Schöpfung der Musikgeschichte fertig da.

19 Sologesangsrollen, zwei stumme Figuren (Andromaque, Astyanax), Chöre der Trojaner, Griechen, Tyrer und Karthager, dazu Nymphen, Satyrn, Faune und Sylphiden, unsichtbare Schatten, ein Orchester, das mit einer Riesenbesetzung und exotischen Instrumenten alles Bisherige in den Schatten stellte und es auf gewisse Weise bis heute tut. Neben der Gruppe der Streicher und allem, was die Sektionen Blech und Holz hergeben, sind da noch Ophikleide (das ist ein Blechblasinstrument aus der Familie der Klappenhörner, mit Klappen und nach oben gerichtetem Schalltrichter), ein extensives Schlagzeug (Triangel, mehrere Arten von Trommeln, Tamburine, Tamtam, Crotales in E und F (Aufschlag-Idiophone aus kleinen gestimmten Bronze- oder Messingscheiben) und Harfen gefragt. Hinter und auf der Bühne kommen noch Oboen, Posaunen, ein kleines Saxhorn, Sopran-Saxhörner, Alt- Saxhörner, Tenor-Saxhörner, Kontrabass-Saxhörner, Pauken, Becken, Donnerblech, Rahmenrasseln und Darbuka Handtrommeln zum Einsatz.

Mit diesem Instrumentarium, kunstvoll und einfallsreich eingesetzt, schuf Berlioz Maßstäbe an klanglicher Vielfalt und beredter Orchestersprache, wobei sich große Tableaus und intime Szenen, Arien, Duette, Rezitativisches, Ballette und vor allem große Chöre zu einer wahrlich beeindruckenden Bühnenaktion zusammenfinden.

Bei solchem Anspruch an die Ausführenden und einer dramaturgisch wie psychologisch angelegten, für das damalige Publikum völlig neuen Musiksprache in der Nachfolge von Glucks Reformoper verwundert es nicht, dass die Annahme der Oper auf sich warten ließ. Berlioz hörte zu seinen Lebzeiten 1863 nur die letzten drei Akte („Les Troyens á Carthage“) am Théâtre Lyrique in Paris. Dass es aber erst hundert Jahre nach Berlioz‘ Tod zu einer Aufführung der gesamten Partitur kam, und zwar 1969 in Glasgow und London durch das Engagement des Dirigenten Colin Davis, verblüfft nun doch.  In Paris war es John Eliot Gardiner und Jean-Pierre Brossman zu verdanken, dass 2003 am Théâtre du Châtelet die erste Aufführung mit historischen Instrumenten oder getreuen Nachbauten stattfinden konnte. Der Mitschnitt mit Susan Graham, Anna Caterina Antonacci und Gregory Kunde in den Hauptrollen ist auf DVD / Blu-ray erhältlich.

Im Zuge der aktuellen Tournee einer halbszenischen Produktion (Bewegungsregie Tess Gibbs) machten „Les Troyens“ am 1. September im Rahmen des Musikfests Berlin im Großen Saal der Philharmonie mit dem Monteverdi Choir und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique unter der Leitung von Dinis Sousa halt.

Wie allen Medien zu entnehmen war, hat sich der britische Dirigent John Eliot Gardiner nach einem Ohrfeigen-Eklat eine längere Auszeit genommen. Er werde alle Engagements bis zum nächsten Jahr aussetzen und sich gemeinsam mit medizinischen Beratern auf seine mentale Gesundheit konzentrieren, wie seine Agentur Intermusica am 31.8. mitteilte. Aber auch der von der Aggression betroffene Bassist William Thomas hat seine Mitwirkung an den Aufführungen von „Les Troyens“ beim Musikfest Berlin und den BBC Proms kurzfristig abgesagt. Die Partie des „Priam“ übernahm der Bassbariton und Chorist Tristan Hambleton, die Partie des „Narbal“ Alex Rosen, der ohnedies schon für die Partien „L’Ombre d’Hector“, „Sentinelle II“ und „Mercure“ engagiert war.

Für Dinis Sousa, seit 2021 Chefdirigent der Royal Northern Sinfonia und Associate Conductor von Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique, bedeutet dieses unerwartete Einspringen den internationalen Durchbruch. Der schlagtechnisch versierte Musiker hielt die Orchester vor und hinter der Bühne, den mit 58 Sängerinnen und Sängern groß besetzten, erfreulich jungen Monteverdi Choir und die Solistenriege mit straffer Hand und höchst präziser Zeichengebung perfekt zusammen. Jeder Einsatz traf, das Orchester folgte den Intentionen des Dirigenten mit maschineller Genauigkeit. Trotz der sicherlich nicht einfach zu spielenden historischen Blech- und Holzblasinstrumente war die teils für unsere Ohren exotische Tonlandschaft von einer atemberaubenden Klarheit und Transparenz. Da war sofort zu merken, dass intensiv, im Details und mit weitem Bogen geprobt wurde (ein Teil des Erfolgs ist künstlerisch somit Gardiner zuzurechnen) und alle Beteiligten mit vollem Herzen und musikalischem Sachverstand bei der Sache waren.  

Der Monteverdi Choir, seit Jahrzehnten Modell eines auf höchstem Niveau agierenden Kammerchors, trat, von der Bewegungsregie aufmerksam betreut, mit einer Klangfülle sondergleichen auf den Plan. Die Homogenität der Stimmen (kann es sein, dass ich eine besonders durchschlagskräftige und engagierte Sopranistin herausgehört habe?), die dynamisch fein austarierte Klanggestaltung, die beiden Chorsolisten Graham Neal und Sam Evans, alles war vom Besten und traumhaft gut disponiert.

Bei den Solisten gab es ein höchst erfreuliches Wiederhören mit Michael Spyres in der Rolle des Énée. Wie schon anlässlich seiner Auftritte in Strasbourg vom April 2017 (der „Les Troyens“ Mitschnitt ist bei Erato publiziert worden) festzustellen war, ist dieser einzigartige „Baritenor“ mit der scheints unendlichen, neutralen Höhe, einer bronzen fülligen Mittellage und einem traumhaften Piano der für mich beste, jedenfalls der stilgenaueste Rolleninterpret, den es je gab. Vielleicht ist er im Lauf der Jahre noch intensiver und passgenauer geworden. Ob kraftvoll heldisch auftrumpfend oder im berühmten Liebesduett mit Didon „Nuit d’ivresse et d’extase infinie!“ mit einem unbeschreiblich delikaten Legato im Pianissimo bezaubernd, der Mann kann einfach alles.

Der zweite Tenor des Abends, der mit einer glaskar geführten lyrischen Stimme und lupenreiner Intonation das Publikum begeisterte, war Laurence Kilsby, derzeit Mitglied des Studios der Opéra national de Paris, als „Iopas“ und „Hylas“. Diesen exzellenten Sänger, der zu einer bemerkenswerten voix mixte (Lied der Ceres im vierten Akt) befähigt ist, wird man sich merken müssen.

Als Cassandre überzeugte die dramatische Mezzosopranistin Alice Coote mit einer überwältigenden Charakterstudie der vom friedensverblendeten Volk nicht gehörten Seherin. Ihre Vision eines brennenden Trojas, die Auseinandersetzung mit ihrem Verlobten Chorèbe (Lionel Lhote) als auch ihre Prophetie eines größeren und schöneren Trojas in Italien zählten zu den eindringlichsten und aufregendsten Momenten des Abends. Die charismatische Sängerin führte in ihrem letzten erschütternden Auftritt in einem unbeschreiblichen gegen die griechischen Soldaten gerichteten Furor die trojanischen Frauen zum kollektiven Tod.

Im Gegensatz zu anderen Produktionen war die Rolle der karthagischen Königin Didon durch die Wahl der Irin Paula Murrihy mit einer vorwiegend lyrischen, sopranlastigen Mezzosopranistin besetzt. Während des großen Fests zu Beginn des dritten Akts konnte sie mich emotional aufgrund einer sehr vorsichtigen Führung ihrer nicht sehr expansionsfähigen Stimme und flacher Tiefe nicht überzeugen. Ihr luxuriös schön timbrierter Mezzo blühte aber im Liebesduett mit Énée wundersam auf. Im Finale des fünften Akts mit der Beschwörung Hannibals als Rächer ihres Leids der aus politischen Gründen verlassenen Geliebten und ihrem Fluch eines ewigen Hasses dem Geschlecht des Énée fand Murrihy jedoch zu ganz großer Form. Ihre Schwester Anna, der Didon ausführlich von einer ahnungsvollen Unruhe erzählt, wurde von Beth Taylor mit interessant individuellen Stimmfarben stimmlich souverän, zudem schauspielerisch top interpretiert.

Adèle Charvet, erfolgreich in Rossini-Mezzorollen unterwegs und im barocken Repertoire heimisch, entzückte als charmant burschikoser Ascagne. Besonders hervorgetreten ist auch der junge amerikanische Bass Alex Rosen, der als Narbal markante Akzente setzen konnte. Ashley Riches als Panthée und Chef grec sowie Rebecca Evans als Hécube ergänzten das exzellente Solistenensemble.

Die Moral von der Geschichte ist eine überaus kritische: Aus Hass wird immer neuer Hass geboren. Das Stück endet auf einen marschartigen Chor mit gereckten Fäusten, der nicht gerade beruhigend verkündet: „Dass auf der Erde und auf dem Wasser unsere letzten Nachkommen gegen sie immer noch bewaffnet sind und eines Tages die Welt mit ihrem Gemetzel erschrecken werden.“

Fazit: Ein in jeder Hinsicht großer, einhellig bejubelter Abend in der nicht besonders gut besuchten Philharmonie.

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Schlussapplaus. Foto: Fabian Schellhorn

Hinweis: Im Deutschlandfunk Kultur wird der Mitschnitt von „Les Troyens“ von den BBC Proms am 22. ab 20:03 Uhr (Akte 1 und 2) und am 23. September 2023 ab 19:05 Uhr (Akte 3 bis 5) übertragen.

Credits Fotos: Fabian Schellhorn/ Berliner Festspiele

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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