Berlin/ Berliner Festspiele: „PALERMO PALERMO“ von Pina Bausch, 16.12.2016
Ensemble. Copyright: Jochen Viehoff
Eine Mauer füllt die ganze Bühne im Haus der Berliner Festspiele. Krachend fällt sie plötzlich nach hinten. Das Publikum zuckt erschreckt zusammen und blickt nun auf ein Trümmerfeld (Bühne: Peter Pabst). Aleppo kommt sofort in den Sinn.
Doch „Palermo Palermo“ von Pina Bausch – eine Koproduktion mit dem Teatro Biondo Stabile, Palermo, Andres Neumann International und dem Tanztheater Wuppertal Pina Bausch – hatte am 17. Dezember 1989 Premiere, nur wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer. Nun ist es auf andere Weise wieder aktuell. Die Wiederaufnahme haben Ruth Amarante, Michael Strecker und Robert Sturm geprobt.
Lange bohrt sich lautes Glockengeläut in die Ohren, vermutlich eine Reminiszenz an die Stadt Palermo, wo Pina Bausch damals dieses Stück konzipierte. Unter dieser Lärmglocke stakst eine Frau durch die staubige Trümmerlandschaft, tanzt bald wie besessen und wirkt hochgradig traumatisiert.
„Scott, take my hands“, ruft sie verzweifelt. Der eilt herbei, will tröstend ihre Hände greifen, doch sie stößt ihn sogleich zurück, mag sich doch nicht fassen lassen. Eine Frau – Julie Shanahan – hin- und hergerissen zwischen Schutzsuche und Abwehr, zwischen Flehen und Befehl, alles bei hektischem, unkontrolliert wirkendem Tanz. Was mag ihr zuvor widerfahren sein? Eigentlich eine zunächst unverständliche Szene, war doch der friedliche Fall der Mauer für die meisten Deutschen ein freudiges Ereignis. Nun aber macht dieser Ansatz den heutigen Horror in vielen Teilen der Welt wieder präsent.
Generell betrachtet präsentiert sich das „Tanztheater Wuppertal Pina Bausch“ als Einheit und noch mehr als eine Einmaligkeit. Das Alter der Tänzerinnen und Tänzer aus 18 Ländern liegt zwischen 25 und 66 Jahren! Sie agieren als Team, werden daher im Programmheft nur alphabetisch aufgelistet. Es sind:
Regina Advento, Emma Barrowman, Rainer Behr, Andrey Berezin, Michael Carter, Çağdaş Ermis, Jonathan Fredrickson, Scott Jennings, Barbara Kaufmann, Daphnis Kokkinos, Eddie Martinez,Dominique Mercy, Blanca Noguerol Ramírez, Breanna O’Mara, Nazareth Panadero, Jorge Puerta Armenta, Jean-Laurent Sasportes, Franko Schmidt, Azusa Seyama, Julie Shanahan, Julie Anne Stanzak, Julian Stierle, Fernando Suels Mendoza, Tsai-Wei Tien, Ophelia Young, Tsai-Chin Yu. – Einige von ihnen waren schon bei der Uraufführung 1889 mit dabei, so Dominique Mercy, Nazareth Panadero, Jean-Laurent Sasportes und Julie Anne Stanzak.
Also zieht die langjährige Ulknudel, die Spanierin Nazareth Panadero, auch im Dezember 2016 wieder eine Spagetti-Stange nach der anderen aus der Packung, immer mit dem Satz „das ist meine, alles meine“. Doch nur die älteren Zuschauerinnen und Zuschauer – vielleicht auch jüngere Zugewanderte – können sich noch an solch karge Zeiten erinnern. Vielleicht hat Pina Bausch (1940-2009) ähnlichen Mangel in ihrer Kindheit erlebt und auch die Armut auf Sizilien. Solch kleine Antiquiertheiten (neben anderen) tun dem Vergnügen jedoch keinen Abbruch. Das Publikum lacht.
Jedenfalls hat Leben und Lachen schnell die sandige, noch mit Trümmerstücken bedeckte Bühne erobert. Alle finden mehr oder weniger zu sich selbst, pflegen in skurrilen Szenen auch ihre speziellen, oft überraschenden Macken. Personen, die stören, werden grundsätzlich waagerecht weggetragen.
Wasser gibt es nun auch wieder, wie wunderbar, wird aber leichtfertig herumgespritzt oder achtlos verplempert. Revolver sind ebenfalls noch im Spiel. Hier dienen sie u.a. dazu, Äpfel vom Tisch zu schießen, um Platz fürs Frühstück zu schaffen.
Äpfel sind ohnehin ein wesentliches Requisit. Empor werfen und mit der Gabel beim Fallen aufspießen, ist eines der Kunststücke. Eine junge Frau fängt sie stattdessen mit ihrem weit schwingenden roten Kleid (Kostüme: Marion Cito).
Danach dann der schwierige Versuch, ohne sich zu entblößen unter dem roten Kleid ein feines schwarzes hochzuziehen. Beim Kampf mit dem Reißverschluss applaudiert das Publikum. Kleine Szenen reihen sich so aneinander, manches kennen wir selbst, erhält hier aber oft eine unerwartete Wendung.
Angeblich waren die 44 Choreographien von Pina Bausch sämtlich Versuche über die Liebe, ist im Programmheft zu lesen. Dafür muss man/frau sich schön machen und flirten. Zwei im Trenchcoat schmieren sich Pomade in die Haare, im Hintergrund wäscht sich dezent ein Splitternackter, und ein Rüpel mutiert zum Transsexuellen mit pastellfarbenen Federfächern.
Die bekannte Szene mit den Pianisten, die wohl als Freiheitshymnus das Thema von Tschaikowskis Klavierkonzert in b-Moll mit Aplomb in die Tasten hauen, fehlt auch nicht. Die sechs sind Matthias Burkert, Iñigo Giner Miranda, Christoph „Mäcki“ Hamann, Panagiotis Iliopoulos, Tom Rojo Poller und Franko Schmidt. Ansonsten stammt die Musik von Grieg und Paganini sowie aus Süditalien, Afrika, Japan und Schottland. Renaissanceklänge wechseln mit Blues und Jazz aus Amerika. (Musikalische Mitarbeit: Matthias Burkert).
Weit überboten werden die Männer an den Klavieren jedoch durch die minutenlange, rasante Tanznummer am Ende der ersten Hälfte, bei der die gesamte Compagnie beweist, wie viel Rhythmusgefühl und Beweglichkeit (noch) in ihr steckt. Da zuckt es dem Publikum in den Füßen und danach in den applaudieren Händen. Die schwingende Herrenreihe ganz zum Schluss – jeder mit einem Apfel auf dem Kopf – muss sich gleichmäßiger bewegen und macht nicht soviel her. Per saldo dennoch große Begeisterung und kräftiger Beifall. Pina Bausch lebt weiter.
Die weitere Termine am 17. 18. und 19. Dezember sind quasi ausverkauft.
Ursula Wiegand
Passend dazu läuft noch bis zum 09. Januar 2017 die Ausstellung Pina Bausch und das Tanztheater im Martin-Gropius-Bau.