Judith Engel, Josefin Platt, Ingo Hülsmann, Martin Rentzsch, Veit Schubert. Foto: Matthias Horn
Berlin / Berliner Ensemble: „GOTT“ von Ferdinand von Schirach, Uraufführung, 12.09.2020
Hier steht sie nun vorne auf der Bühne, die 78jährige Elisabeth Gärtner, und kann nicht anders (Martin Luthers Verteidigung in Worms). Sie – gespielt von Josefin Platt – möchte mit ärztlicher Hilfe sterben, obwohl Untersuchungen zeigen, dass sie geistig und körperlich völlig gesund ist.
Der Grund ihres Vorhabens: vor drei Jahren hat sie nach langer Ehe ihren geliebten Mann verloren und empfindet seither ihr Dasein als sinnentleert und nicht mehr lebenswert. Ihr Beruf als nach wie vor selbständige Architektin hilft ihr nicht über diesen Abgrund hinweg, entsprechende psychologische Behandlungen haben auch nichts gebracht.
Selbst ihre Kinder und Enkelkinder können diesen für sie entscheidenden Verlust nicht wettmachen. Lange hat sie über ihren Suizid-Wunsch mit den Kindern, die hier nicht in Erscheinung treten, diskutiert. Vergeblich haben diese versucht, sie von diesem Vorhaben abzubringen, doch gelungen ist ihnen das nicht. Voller Kummer wollen sie die Entscheidung der Mutter akzeptieren.
Doch trotz der Tilgung von Paragraph 2017 im Februar 2020 aus dem Grundgesetz (der seit 2015 die „geschäftsmäßige Förderung“ des Suizid, also die Sterbehilfe, u.a. durch die Beschaffung eines tödlichen Medikaments verbot) halten die Debatten der Gegner und Befürworter der neuen Regelung an.
Daher verweigert man der Frau Gärtner nach wie vor dieses international bereits gebräuchliche Medikament, das sie (oder andere Suizid-Willige) dann selbst einnehmen könnte(n). Die Leiden, die ihr Mann, behaftet mit einem Gehirn-Tumor, auf sich nehmen musste, haben Frau Gärtner in diesem Entschluss noch bestärkt.
Was die Entfernung von § 217 für Lebensmüde bedeutet, erklärt Judith Engel als Rechtssachverständige. Seit diesem Februar steht, so führt sie aus, die Selbstbestimmung des Menschen im Grundgesetz obenan. Eine unheilbare Krankheit ist nicht mehr die Voraussetzung für den erlaubten Suizid, das böse Wort Selbstmord entfällt damit, und auch das Alter des Betreffenden spielt keine Rolle mehr.
Nach eingehender Prüfung, ob die Entscheidung nicht fremdbestimmt sei (!), dürfen alle, die das wollen, aus dem Leben scheiden und ihnen dabei zu helfen, ist für Ärztinnen und Ärzte keine Straftat mehr. Schon vor der Beseitigung dieses Paragraphen haben es einige Ärzte gewagt.
Nun ist diese Barriere beseitigt, doch die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber lässt noch auf sich warten. Dennoch will die Augenärztin Frau Brandt (überzeugend Christine Schönfeld), die Frau Gärtner schon viele Jahre lang wie eine Hausärztin betreut, die Hilfe nicht verweigern. Aus früherer Erfahrung in der Notaufnahme weiß sie, wie schrecklich der eigene Suizid-Versuch enden kann, wenn die Verzweifelten ihn unheilbar verletzt überleben.
Martin Rentzsch, Bettina Hoppe, Christine Schönfeld, Josefin Platt, Judith Engel, Gerrit Jansen, Ingo Hülsmann, Veit Schubert. Foto: Matthias Horn
Der Intendant des Theaters, Oliver Reese, hat in seiner Inszenierung dieses weiterhin umstrittene Thema in dieser Uraufführung angepackt. Auf einem hellen Holzgestell (Bühne Hansjörg Hartung) und davor streiten die Experten in mehr oder minder eleganter Berufskleidung (Kostüme: Elina Schnizler) über diese Neuerung. Bisweilen sorgt das Bratschenspiel von Simone Jandl für eine gewisse Beruhigung.
Es tagt nun der Ethikrat unter dem Vorsitzenden Gerrit Jansen. Gegen diese Grundgesetzänderung, die die aktive Sterbehilfe jedoch nach wie vor verbietet, empört sich zunächst Herr Sperling als Medizinischer Sachverständiger und gleichzeitig Vorsitzender der Bundesärztekammer. Geschliffen argumentiert Ingo Hülsmann, dass ein Arzt Leben retten und nicht beenden soll. In aussichtslosen Fällen dürfe er aber mit einer Überdosis Morphium und der Abstellung von Apparaten das Ende der Leiden herbeiführen.
Ähnlich, aber aus katholischer Sicht, argumentiert Bischof Thiel als Theologischer Sachverständiger, gespielt von Veit Schubert. Zwei Herren, die in ihren Lebensrollen verharren und für die Barmherzigkeit offenkundig ein Fremdwort ist. Ferdinand von Schirach (geb. 1964), Strafverteidiger, erfolgreicher Schriftsteller und Dramatiker in einer Person, legt dieses urchristliche Wort den Gegnern der Abschaffung von § 217 gar nicht erst in den Mund.
Klar, dass in solch einer Sitzung unaufhörlich geredet und kenntnisreich argumentiert wird. Nur der temperamentvolle Martin Rentzsch als Rechtsanwalt Biegler und Bettina Hoppe als Rechtssachverständige bringen Leben in den allgemeinen Redeschwall. Als der Bischof immer wieder auf die christlichen Werte in der deutschen Verfassung verweist, kontert der Rechtsanwalt mit dem Hinweis auf den Missbrauch tausender Minderjähriger durch katholische Priester. Bei ihm gibt es kein Pardon für Spitzfindigkeiten
Elisabeth Gärtner, die diese öffentliche Debatte gewünscht hatte, hört aufmerksam zu, wirkt aber allmählich verschüchtert. Die teils aggressiven Fragen an sie und die Argumente der Suizid-Gegner brandmarken sie fast als Verbrecherin, obwohl sie noch gar nicht Hand an sich gelegt hat. Doch letztlich bleibt sie ruhig und lässt sich auch nicht beeinflussen.
Beim Blick durch den stark aufgelockerten Saal fällt auf, dass wohl die älteren Besucherinnen und Besucher in der Mehrheit sind, denn denen gehen vielleicht ähnliche Gedanken durch die Köpfe. Doch bei der Abstimmung per Handzeichen – ähnlich wie bei Schirachs Stück „Terror“ vor 5 Jahren, das anschließend in mehr als 100 Theatern lief und auch verfilmt wurde – ist es nun bei „GOTT“ nur eine, wenn auch erhebliche Minderheit, die der sterbewilligen Frau Gärtner helfen würde.
Wie groß das allgemeine Interesse an Schirach und diesem Thema ist, zeigt ein Blick auf den Spielplan. Bis gegen Ende September sind sämtliche Termine ausverkauft, am heutigen Sonntag wird das Stück sogar zweimal gespielt, am Nachmittag und am Abend. Das Gleiche ist am 27. September der Fall, obwohl die Schirach-Stücke mehr Diskussionsrunden als tatsächliches Theater sind. Sie behandeln jedoch Fragen, die vermutlich viele Menschen haben, ob jung oder alt. Das ist ihr Erfolgsrezept.
Noch offen ist aber noch Weiteres: Da die Berliner Kulturverantwortlichen am 10. September den nötigen Sitz-Abstand von 1,50 auf einen Meter verkürzt haben, dürfen nun mehr Menschen in den Theater- und Musiksälen Platz nehmen. Wird nun Intendant Reese die 500 herausgenommenen Stühle wieder in den großen Saal hineinbringen lassen?
Voraussetzung für das Zusammenrücken ist jedoch das Ansteckungsrisiko mindernde Tragen einer Gesichtsmaske während der gesamten Aufführungen. Werden die Theater- und Musikfans das so auf Dauer akzeptieren und verstärkt kommen?
Von meinem mit Abstand sitzenden Hintermann, der oft laut und heftig hustete, und trotz freundlicher Handzeichen das Benutzen der Maske verweigerte, hätte ich mir solche Rücksichtnahme gewünscht. Und wer kontrolliert eigentlich, ob dann alle mit der Maske wirklich den Mund und die Nase während der Vorstellung bedecken? Hoffen wir das Beste.
Ursula Wiegand