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BERLIN/ Barocktage der Staatsoper: „IDOMÉNÉE“ von André Campra. Eine lohnenswerte Entdeckung

11.11.2021 | Oper international

Berlin / Staatsoper Barocktage: IDOMÉNÉE“ von André Campra. Eine lohnenswerte Entdeckung. 2. Aufführung am 10.11.2021

Eine Barockoper von André Campra (1660-1744) – wer ist denn das? Seinerzeit war er ein bekannter und erfolgreicher Musiker, zeitlich ein Bindeglied zwischen Lully und Rameau, geriet jedoch weitgehend in Vergessenheit. Das aber, so zeigt es sich, hat er nicht verdient. Allmählich ist man ihm, vor allem in seiner Heimat Frankreich, auf der Spur.

Offenkundig liebte er Musik plus Ballett. 1697 komponierte er „L’Europe galante“ als opéra-ballet. Die gleiche Mischung wählte er für „Le carnaval de Venise“, uraufgeführt 1699.  

Da er zu jener Zeit an der Singschule von Notre Dame de Paris tätig war, musste Campra jedoch mit solch weltlichen, in Kirchenkreisen als frivol geltenden Werken vorsichtig sein und ließ sie laut Wikipedia von seinem Bruder unterzeichnen.

1700 kündigte er bei Notre Damen und wechselte in seinem Opernschaffen, das mehr als 50 Werke umfasst, stilistisch zur „tragédie lyrique“, so auch bei Idoménée, uraufgeführt 1712. Dennoch fehlt es auch in der jetzigen Koproduktion mit der Opéra de Lille nicht an diversen, teils etwas barockfremden Tanz-Einlagen.

Das Verdienst für diese Wiederentdeckung und -aufführung gebührt vor allem der Barockexpertin und Dirigentin Emmanuelle Haïm, die sich intensiv mit Campras Idoménée beschäftigt hat und schon tags zuvor – zusammen mit dem von ihr gegründeten LE CONCERT D’ASTRÉE  – in der Staatsoper Unter den Linden sehr überzeugte und begeisterte.

Frau Haïm lobt auch die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Àlex Ollé von der katalanischen Truppe La Fura dels Baus, mit dem sie viel diskutiert und einen Weg zur Darbietung gefunden habe, äußert sie im Programmheft. Diese international renommierte Gruppe bringt zumeist Besonderes zustande. Auch diesmal. Das wieder auferstandene Werk feierte schon im September 2021 an der Oper Lille eine glanzvolle Premiere.
Glanzvoll zeigt sich in der Staatsoper Berlin zunächst die Bühne, gestaltet von Alfons Flores. Dank raffinierter Technik ist im Halbdunkel ein beweglicher, farbig glitzernder, rätselhafter Königspalast zu bestaunen, später auch die Andeutung eines mächtigen Schiffes.

Vor dem Palast steht ein breites Himmelbett. Das wird selbstverständlich auch gebraucht, zumal im Prolog sogleich die Göttin Venus erscheint, die die Liebe preist und den Gott Amor herbeiruft.

Dank Mozart ist die griechische Sage um Idoménée, König von Kreta, sicherlich weitgehend bekannt. In einem Sturm auf hoher See verspricht ihm der Gott Neptun das Überleben, wenn er den ersten Menschen, der ihm an Land begegnet, tötet und ihm als Opfer darbringt. Nur der Schluss ist ein anderer.

Dieses Versprechen sowie die Wirren von Liebe und Hass sind die Leitlinien, die nicht aus dem Labyrinth der Gefühle hinausführen, sondern hinein ins Verderben. Die Götter sind bei Campra und seinem Texter Antoine Danchet – gemäß der alten griechischen Sage – zumeist böse und unversöhnlich, so dass die Liebenden aller Altersstufen dem Abgrund nicht entgehen können.

Im Vergleich dazu haben sich Mozart und sein Librettist beim 1781 in München uraufgeführten „Idomeneo“ für eine leichtfüßigere und publikumsfreundlichere Variante mit einem Happy End entschieden, das sich offensichtlich die biblischen Erzählung von Abraham und seinem Sohn Isaak zum Vorbild nahm.

Bei André Campra wird nichts weichgespült, doch in welch eine wunderbare Musik hat er dieses vergebliche Bemühen um Frieden, Glück und Liebe gehüllt. Wie durchdacht wirken die oft längeren Rezitative und wie eindrucksvoll die eher sparsam verwendeten Arien. Großartig und mit Herz und Seele wird nun alles auch in Staatsoper Berlin gesungen und gespielt.  

In die zunächst von Venus (Eva Zaïcik) und dem unsichtbaren Amor angezettelten, aber recht verhalten dargebotenen Gruppen-Sexübungen, wird auch der Kronprinz Idamante hineingezogen, ein zarter, schüchterner junger Mann im blauen Anzug (Kostüme: Lluc Castells).  Der liebt jedoch insgeheim die trojanische Prinzessin Ilione, die sich ebenfalls in ihn verliebt hat, sich das aber aus Nationalstolz nicht eingestehen, geschweige denn preisgeben will.

idoménée, samuel boden (idamante), chiara skerath (ilione), foto bernd uhlig
Samuel Boden, Idamante Chiara Skerath, Ilione. Foto: Bernd Uhlig

Beide – Samuel Boden und Chiara Skerath – sind auch optisch glaubwürdig und gewinnen mit ihren schönen Stimmen sogleich das Publikum. Er mit einem hellen, gut führten Tenor, sie mit ihrem lyrischen, farbenreichen Sopran. Das Opera-Magazin pries sie aufgrund ihrer brillanten Technik und ihres samtenen Timbres, was sie an diesem Abend bestätigt.

Der Krieg der Griechen gegen Troja ist nun geschlagen, ab jetzt soll Friede zwischen den Völkern herrschen, beschließt der gutherzige Idamante. Er gibt die gefangenen Trojaner frei und lässt sogar weiße Anzüge für sie herbeibringen. (Feinripp ist hier also nicht angesagt). Nun hofft er zusammen mit dem Volk (dem Chor) auf die Rückkehr seines Vaters Idoménée.

In dieser Rolle überzeugt sofort der stattliche Tassis Christoyannis. Mit seinem klangreichen Bariton, der in dieser Oper oft zum Bass-Bariton wird, sowie aufgrund seiner Schauspielkunst ist er von Anfang an der tragende Pfeiler dieser Barockoper.

Doch bekanntlich wird dem von Sturm ramponierten Troja-Besieger ein Pakt mit dem Gott Neptun (Yoann Dubruque) sogleich zum Verhängnis. Der hat ihm zwar die Landung auf seiner Heimatinsel Kreta ermöglich, doch der Preis dafür ist fürchterlich. Das erste Lebewesen, das ihm an Land entgegenkommt, muss er ihm opfern.

Das ist leider kein Tier. Wie er bald erschüttert ahnt, ist es sein eigener, inzwischen erwachsener Sohn Idamante ist, der ihm auch sogleich Hilfe anbietet. Nein, diesen Sohn, der ihn nun glücklich umarmt, wird er nicht töten und sucht nun nach Auswegen, um Neptun auf andere Weise zufrieden zu stellen. Wie Tassis Christoyannis das verzweifelt singt und spielt, geht immer wieder ans Herz.

Andererseits sind Vater und Sohn aber auch Rivalen, und das wird ein weiterer Brandbeschleuniger. Beide lieben die Trojanerin Ilione, die jedoch Idoménée mutig und stolz zurückweist. Das treibt einen Keil zwischen Vater und Sohn.

idoménée, hélène carpentier (Électre), foto bernd uhlig
Helene Carpentier. Electre. Foto: Bernd Uhlig

Idamante wird darüber hinaus auch von Électre (Elektra) heimlich geliebt. Die, eine ziemlich rabiate Frau, will der Trojanerin diesen Mann abjagen und gesteht ihm sogar ihre Liebe. Doch er weist sie ab. Der kräftige, schillernde Sopran von Hélène Carpentier lässt die ganze Wut dieser großen schicken Blondine hören.

Doch das Blatt wendet sich, als Arcas (Enguerrand de Hys) dem König rät, Idamante solle Électre bei der Rückkehr in ihre Heimat begleiten. Idoménée gefällt diese Idee, schlägt er damit doch gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Dort sei Idamante vor Neptun sicher, so hofft er. Außerdem verliere er damit den Rivalen. Idamante gesteht jedoch noch vor der erzwungenen Abreise Ilione seine Liebe und sie ihm die ihre.

Électre, zunächst nichts ahnend, ist nun glücklich und wird ganz sanft. Sie hofft, Idamante nun für sich zu gewinnen. Ihre, von zwei Flötisten umschmeichelte Arie gehört zu den Perlen dieser Oper. Doch ein erneuter Sturm verhindert die Abreise und stürzt das Volk in Angst und Schrecken.

Selbst eine Opferhandlung, mit der Idoménée den erzürnten Neptun besänftigen will, stimmt den nicht um. Idamante ist und bleibt derjenige, der in jedem Fall sterben muss. Die Regie deutet es an: Auf dem langen Tisch liegt unter den Blumen ein junger Mann im blauen Anzug.

Daher hilft es auch nicht, dass der Vater als König zu Gunsten seines Sohnes zurücktritt, Ilione freigibt und den beiden junge Leuten eine prächtige Hochzeit bereitet, die Électre auf Rache sinnen lässt. Doch auch in diesem Fall erledigen  weitere herbeigerufene Götter – kraftvoll gesungen von Victor Sicard und Frédéric Caton – gerne diese miesen Geschäfte. Die Auftraggeber/innen behalten ihre weiße Weste.

Insgesamt ist hier eine Luxusbesetzung erfolgreich am Werk, und damit sind auch das schon am Vortag so überzeugende Ensemble LE CONCERT D’ASTRÉE mit seinem Chor und den Instrumentalisten gemeint und vor allem dessen fabelhafte Dirigentin Emmanuelle Haïm. Die hält alle Fäden sicher und unermüdlich in ihren Händen, die gestaltet mit Hingabe jeden Ton und jede Sequenz.

Aufgrund dieser Leistung hat die Staatsoper Berlin eine Sternstunde erlebt, und das Publikum ist sich dessen offensichtlich bewusst. Begeistert feiert es diese „neue“ Barockoper und ihre großartigen Interpreten/innen. Noch besteht auch die Chance, bisher Versäumtes unter den neuen Hygienebedingungen nachzuholen, so am 14., 18. und 20. November.    

 Ursula Wiegand

 

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