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BERLIN / Bar jeder Vernunft: DIE BETTWURST – DAS MUSICAL!; Wiederaufnahme

06.02.2025 | Operette/Musical

BERLIN / Bar jeder Vernunft: DIE BETTWURST – DAS MUSICAL!; Wiederaufnahme, 5.2.2025

Trash mit TiefgangAnna Mateur und Heiner Bomhard als genial schrill durchgeknalltes Paar

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Foto: Barbara Braun

Was ist eine Bettwurst? Banal handelt es sich um einen Seitenschläferpolster in allen Varianten. Das reicht vom Berliner Blutwurstkissen (Produktinformation: „Unsere Wurstillusion vollenden wir im Anschnitt, der nach Thüringer Art mit verschiedenfarbigem Zungenfleisch- und Speckstücken benäht ist. Das Wurstende ist mit einer Kordel zusammengebunden und versiegelt.“) über kleine Plüschwürsten mit aufapplizierten Smileys für Kinder bis zu längeren Versionen alias Bettschlangen. Oder aber steht dieses lautmalerisch ansprechende Wort als Synonym für einen Camp-Film von Rosa von Praunheim aus dem Jahr 1971. „Der Low-Budget-Film erlangte durch seine Eigenwilligkeit schnell Kultstatus.“ Dem im Jahr 1973 als Sequel die „Berliner Bettwurst“ folgte.

Aus der Filmvorlage schneiderten der bei dieser Aufführung wieder anwesende Meister selbst (Buch & Regie Rosa von Praunheim) gemeinsam mit Heiner Bomhard (Musik und Darsteller des Dietmar) ein Musical mit zwei die spießige Zweisamkeit persiflierenden und dabei ungemein berührenden Hauptdarstellern, einem vielgestaltig eingesetzten Chor inklusive. Das Stück mit den vielen Perspektiven hatte im Jahr 2022 in der Bar jeder Vernunft seine Uraufführung gefeiert und erlebt nun vom 5.2. bis 2.3.2025 die zweite Wiederaufnahmenserie.  

Über Ga-Ga-Da-Da Texte, dass einem Hören und Sehen vergehen können, hat Heiner Bomhard tief in die Kiste von allerlei Musikstilen gegriffen und wunderbare Songs, Duette, Ensembles und Chöre komponiert. Die sind gekonnt geschrieben (Chöre!), machen einfach gute Laune, aber übertreffen ganz sicher vieles an Originalität, Witz und Tempo, was sich am Musicalmarkt von Hamburg bis Berlin so an Retortensounds in unsere Ohren schleichen will. Zu einem mit Herzblut sich verströmenden Trio mit Klavier, Klarinette, Altsaxophon und Bass (Ferdinand von Seebach, Karola Elßner, Andreas Henze) geht es jazzig, poppig, rockn’rollig, folklorig und (Zwölfton)opernpersiflierend flockig zur Sache.

Und die geht so: Luzi und Dietmar, zwei einigermaßen patscherte und vom Leben durchgerüttelte Underdogs sehnen sich raus aus Gemeinheit und Niedertracht des Alltags. Beide haben schlechten Erfahrunen u.a. mit den sexuellen „Bedarfen“ ihrer Mitmenschen gemacht und waren bislang nicht gerade vom Glück verfolgt. Er ist ein im Heim aufgewachsener, missbrauchter, aber dennoch höchst liebenswert und zuvorkommend gebliebener, einfacher gestrickter Berliner Junge mit Charme und gefährlichen Unterweltkontakten. Sie ist eine gestandene, ruppige Polin mit imponierend junonischer Figur in den besten Jahren und mit dem Herz auf dem goldrichtigen Fleck. Luzi laboriert nicht nur in der Prosektur, sondern auch an der Geschichte der inzwischen toten Mutter und überlebte ein Date mit einem Messeattacken-Psycho nur dank ihrer üppigen Oberweite überlebt. Der Dank an dieses Meisterwerk der Natur wird dann auch froh vulgärpoetisch besungen: „Mit meinem dicken Busen da kann ich nicht nur schmusen, ich zerquetsche alles wie Tomaten.“

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Foto: Barbara Braun

Nun treffen die zwei schrägen Vögel in Kiel aufeinander und finden in dem jeweils anderen, was sie suchen, nämlich Ehrlichkeit, Aufmerksamkeit und echte ungeschminkte Zuneigung. Da tut der Altersunterschied nichts mehr zur Sache und auch nicht, dass Dietmar schwul ist.

Aber keine Bange, so sozialkritisch hintergründig wird nicht gegessen, wie es angerichtet ist. Das ganze wahnwitzig kunterbunte Treiben kann nämlich auch als pure Persiflage auf knallblumige Sexbesessenheit, kleinbürgerliche Riten und Billig-Crime genossen werden. Und da gibt viel unterhaltsam Anzügliches zu sehen und zu lachen. Und das Publikum darf mit den auf jedem Tisch liegenden Seifenblasen als Regenmacher oder mit Papierschirmchen mitmachen.

Denn Luzi und Dietmar lassen bei der gegenseitigen Annäherung keinen Fettnapf und keine Peinlichkeit aus. Das erinnert dann, was den schlaksigen blondgelockten Heiner Bomhard in Leopardenunterhose anlangt, an eine Mixtur aus Sacha Baron Cohen und dem jungen Alfred Dorfer. Wenn Dietmar mit der Bonbonnière als Gastgeschenk anrückt, bliebt beim Rangeln um das beste Stück kein Auge trocken.

Die großartige Dresdner Schauspielerin, Jazzsängerin und Komikerin Anna Mateur macht sich ohne Rücksicht auf Verluste ran an den Mann. Nach Ostsee-Bade-Tanzspaß und der offenbar erfolgreichen Liebesnacht bringt sie dem Jungesellenwohnung-Verschlampten Staubsaugen bei und will ihm ihre „Ordnung ist das halbe Leben“ Schrebergarten-Weltanschauung einimpfen. Beim Glitter-Flitter-Weihnachtsfest fließen die Freudentränen über so tolle Geschenke wie (ha, da ist sie endlich) Bettwurst oder Messerschleifer. Aber halt. Kein Glück währt ewig. Tante Luzi wird von den Spießgesellen Dietmars entführt. Messermeucheln und eine Schießerei später treffen sich die beiden Kurzzeit-Turteltäubchen im Himmel und singen sich selig ins rosaplüschig-flauschige Finale.

Bei all dem Treiben und Schweinigln köstlich outrierend, sei es als Fische oder Hündchen, mit dabei: Robert Lankester, Fausto Israel, Nell Pietrzyk und als Rosa von Praunheim-„Double“ mit Papp-Kamera Rafael Albert. Ein Sonderlob für die quietschflorale und kolossal amüsante Ausstattung samt Kostümen geht an Ingrid Buhrmann, Lara Scheuermann, Oliver Sechting, Marcus Lachmann und Moritz Piefke.

Fazit: Wer sich vor Trash, Obszönitäten am laufenden Band mit einer Portion Tiefgang, der rührenden, aber penislangen und muschifeuchten Story nicht fürchtet, wird einen höchst kurzweiligen, queer-lustvoll tabulosen Abend erleben. Heiner Bomhard und Anna Mateur bieten für dieses Genre schlicht und einfach Weltklasse. Da wirkt nichts aufgesetzt, alles kommt mit einer Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit über die Rampe, dass nur das eine Wort gilt: Große Kunst!

Bis 2. März jeden Di. bis Sa. 20:00 Uhr, Einlass ab 18:30 Uhr, So. 19:00 Uhr, Einlass ab 17:30 Uhr, Bar jeder Vernunft: Schaperstr. 24, 10719 Berlin

Tipp: Vom 6.-11.5. 2025 wird Anna Mateur & The Beuys ihr musik-kabarettistisches Programm „Kaoshüter“ in der Bar jeder Vernunft vorstellen.

 

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Foto: Barbara Braun

Dr. Ingobert Waltenberger

 

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