Berlin/Berliner Ensemble: „SHAKESPEARES SONETTE“, Musiktheater voller Zauber, 10.01.2017
Christopher Nell (Lady), Dejan Bucic (Lady), Sabin Tambrea (Lady), Jürgen Holtz (Elisabeth): Copyright: Lesley-Leslie-Spinks
Draußen Schnee und ein eiskalter Wintervollmond, drinnen ein Frühlingstraum in warmen Farben. Es geht um Shakespeares berühmte, geheimnisvolle und hier vertonte Sonette. Robert Wilson (Regie, Bühne und Lichtkonzept) interpretiert sie – eine Auswahl von 25 aus 154 – zunächst als märchenhaftes Geschehen.
Am 09. Juni 2009 habe ich dieses Stück im Berliner Ensemble erlebt. Jetzt laufen die letzten Vorstellungen, da muss ich nochmals rein. Begeistert mich das noch so wie bei der Uraufführung vor 7 ½ Jahren?
Der zeitliche Abstand tut gut. Der 43. Vers, der zunächst von Angela Winkler (Fool) mit Narrenkappe vor dem Vorhang, dann von der neuen Shakespeare-Darstellerin Angela Schmid gesprochen wird, bohrt sich selbst in Christa Schuenkes deutscher Übersetzung erneut in Kopf und Herz:
„Ich seh viel mehr, mach ich die Augen zu,“ beginnt dieses Sonett. „Tag ist wie Nacht mir, kann ich dich nicht sehn, doch Nacht wird Tag, lässt Traum Dein Bild erstehn,“ lauten die beiden letzten Zeilen, eine Liebe offenbarend, die real keine Erfüllung findet.
Worte voller Poesie sind es, und so werden sie und andere Sonette interpretiert, mit einer Tendenz zum schwebend Unwirklichen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler agieren wie trippelnde Spieluhrfiguren, die jedoch –mehr als 400 Jahre leichtfüßig überbrückend – in ihren elisabethanisch inspirierten Kostümen (von Jacques Reynaud) tanzend lebendig werden.
Mit ihren weiß geschminkten Gesichtern, den schwarz betonten Kulleraugen und oft skurril zackigen Gesten wirken sie wie plötzlich in die Gegenwart gesprungen, die Frauen in den Männerrollen, die Männer in Frauenkleidern. In Sonett 144 dichtete William Shakespeare es so: „Zwei Lieben hab ich – Trost und Höllenpein…Mein guter Geist ein Mann, blond schön und rein. Mein böser Engel ist ein dunkles Weib.“ Doch ganz gleich, wen sie verkörpern, sie alle sprechen und singen Shakespeares vierzehnzeilige Sehnsuchtsreime und auch die kritischen mit klaren, kräftigen und intonationsreinen Stimmen. Chapeau für die Damen und Herren vom Berliner Ensemble!
Bis auf die beiden schon genannten Schauspielerinnen ist das Ensemble von 2009 nach wie vor mit Temperament und Witz an Bord. Die besonders markante Stimme von Inge Keller vermisse ich dennoch. Die inzwischen 93Jährige tritt nicht mehr auf.
Aber der nun 84 Jahre alte Jürgen Holtz ist noch da und überzeugt, pompös gekleidet und mit roter Damenperücke, erneut als schlecht gelaunte Königin (Elisabeth I und II). Der singt mit kräftigem Organ, doch der/dem wird echt übel, als der beflügelte Cupido (Amor) auf ihn einen Liebespfeil abschießt. Das muss nun wirklich nicht mehr sein.
Georgios Tsivanoglou. Copyright: Lesley-Leslie-Spinks
Dieser kleine rundliche Verführer (Georgios Tsivanoglou) erhält sogleich kräftigen Zwischenbeifall, vor allem von den vielen jungen Menschen im ausverkauften Saal. Mit Hüftschwung und Flatterarmen tanzt und springt er so lebendig herum, als täte er das jeden Abend, hier angefeuert durch das Sonett 154 „Als einst der Liebesgott entschlummert war..“, vom Musikmacher Rufus Wainwright schmissig nach Renaissanceart komponiert.
Per saldo bringt der einen Parcours durch alle möglichen Stile als Untermalung für heißes Begehren und kalte Enttäuschung, versucht auch, wahre Liebe, Hass, Verzicht und frühe Todesgedanken in Noten zu fassen. Sanft klingt das Sonett „Was ist dein Stoff, woraus schuf dich Natur, dass sich Millionen Schatten um dich reihn?“
1609 dichtete William Shakespeare (1564-1616) diese Sonette, die – siehe oben – seine Leidenschaft für Männer und die Furcht vor Frauen, speziell vor der Black Lady (Ursula Höpfner-Tabori), zeigen. Diejenigen Verse, die schon eine gewisse Abschiedsstimmung erkennen lassen, berühren besonders.
À la Shakespeare, der zur Unterhaltung des Publikums stets Ernst und Spaß, Tragik und Clownerie mischte, versuchen Wilson und Wainwright (mit der völlig unveränderten Musik-Crew) in der zweiten Halbzeit ähnliches zu tun. Doch dabei lässt die Poesie deutlich Federn, und das Traumhafte kippt ins raue Heute.
Auch die sexuellen Anspielungen werden derber, wenn drei singende Männer vor drei Tankstellen recht eindeutig den Zapfhahn in den Händen halten oder drei Dominas knallend die Peitschen schwingen.
Christopher Nell als „Eve“: Copyright: Lesley-Leslie-Spinks
Heftigen Beifall erntet nun Dominic Bouffard für ein langes knackiges E-Gitarren-Solo, während eine androgyn wirkende Eva (Christopher Nell) mit einer Schlange um den Hals am Paradies-Baum der Erkenntnis kräftig in einen Apfel beißt und die Stücke dann ausspuckt.
Voll auf dem realen Berliner Boden agiert die bekannte Diseuse Georgette Dee. „400 Jahre Sonette. 400 Jahre Liebe, Leidenschaft, Hass – voll meine Themen“. Sie/er, ein Pfunds-Mannweib, plaudert und singt sich mit dunkler Stimme kess durch die Umbaupausen, hat schließlich auch einen wesentlich kleineren Partner (Winfried Goos) wie ein Baby auf dem Schoß. Die kann, Spargel kauend, nichts erschüttern, ihr ist der verdiente Beifall gewiss.
Manche Sonette werden im Verlauf des Abends wiederholt, damit wir sie uns merken. Das anfängliche und auch die Nr. 66: „All dessen müd, nach Rast im Tod ich schrei. „Ich seh es doch: Verdienst muss betteln gehn und reinste Treu am Pranger steht dabei und kleine Nullen sich im Aufwind blähn“. Wie aktuell, denke ich. Doch der Gedanke an den Liebsten, der dann allein ist, wenn der Klagende stirbt, hält ihn laut Shakespeare am Leben.
Das singen zuletzt noch einmal alle gemeinsam, im Brecht-Weill-Sound an Bertolt Brechts Heimatbühne, wo Wilson vor Jahren schon die Dreigroschenoper inszeniert und Faust I und II auf seine Art bearbeitet hat. Für den zarten Nachklang sorgt dann doch noch, wie 2009, Rufus Wainwright selbst. Leise singt er das Sonett Nr. 20 im originalen Shakespeare-Englisch: „A woman’s face with nature’s own hand painted“, die zärtliche Hymne an einen Schönen, dem die Natur, die sich selbst in sie/ihn verliebte, „ein Ding“ zum Entzücken von Frauen angehängt hat. Nach viel Zwischenbefall nun langer Jubel für alle.
Das sind außer den bereits Genannten noch Dejan Bućin (Gentleman/ Lady), Sabin Tambrea (Woman / Lady), Traute Hoess (Rival), Anna Graenzer (Boy) und Anke Engelsmann (Secretary). Die großartigen Musiker waren Stefan Rager (Dirigent und Schlagzeug), Hans-Jörn Brandenburg (Piano), Dominic Bouffard (Gitarre), und Andreas Henze (Bass) sowie das ISANG QUARTETT mit Sangha Hwang (Erste Violine), Yewon Kim (Zweite Violine), Sara Kim (Viola) und Yeo Hun Yun (Violoncello).
Ursula Wiegand