Pionierleistung für Anton Bruckner: Christian Thielemanns Berliner Philharmoniker-Konzerte 29. Februar / 1. und 2. März 2024:
Corona hatte auch Vorteile! Damit soll nun nicht behauptet werden, dass die Pandemie schön gewesen wäre, aber sie bescherte Freiräume, die es sonst im Klassikbetrieb selten oder nie gibt. Die Gesamteinspielung aller Bruckner-Sinfonien durch die Wiener Philharmoniker, zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit einem Dirigenten (!) – Christian Thielemann – wäre, ohne Corona, möglicherweise auch nur eine der „gezählten“ Sinfonien 1 – 9 geworden, hätte nicht die Zwangspause durch Corona die Möglichkeit eröffnet, auch die beiden frühen und ungezählten Sinfonien in die Edition einzubeziehen, nicht nur aus Gründen der Vollständigkeit, sondern weil es sich um wirkliche frühe Meisterwerke handelt, wie der Dirigent betont: „Ich habe einige der interessantesten Monate hinter mir, als ich diese Stücke zum ersten Mal studiert habe. Ihm [Bruckner] in die Werkstatt zu gucken, das ist etwas ganz Fantastisches.“
Während die Wiener Philharmoniker beide Werke – die Sinfonie in f-moll (mißverständlich als „Studiensinfonie“ bezeichnet – und die sogenannte „Nullte“ – die Sinfonie in d-moll, die ursprünglich seine 2. Sinfonie hätte sein sollen – noch nie gespielt hatten, lassen sich beide Werke in der Geschichte der Berliner Philharmoniker durchaus finden: die f-moll-Sinfonie wurde am 19. Februar 1925 erstmals unter Franz Moißl vollständig durch die Berliner zur Aufführung gebracht, die d-moll-Sinfonie erklang bei den Berlinern sogar bereits ein Jahr früher, am 12. Dezember 1924. Beide Sinfonien wurden allerdings kein Bestandteil des „gängigen“ Repertoires, in Berlin erklang die f-moll-Sinfonie im November 1989, die d-moll- im Januar 2001 zuletzt. Thielemann hat es sich zur Aufgabe gestellt, diese Werke zu rehabilitieren und hat damit gleich in Berlin gewichtig begonnen.
Die f-moll-Sinfonie schrieb Bruckner 1863 als eine der Abschluss-Arbeiten bei seinem Lehrer Otto Kitzler, der es – ein Beispiel dafür, wie vermeintlich „profunde“ Meinungen die Verbreitung eines Werkes beeinträchtigen können! – als „nicht besonders inspiriert“ bezeichnete, weshalb es Bruckner später bei Seite legte und abqualifizierend als „Schularbeit“ bezeichnete. Dabei lässt gerade dieses Werk erkennen, wie genau Bruckner sich mit Werken anderer Komponisten beschäftigt hat – mit Weber, Marschner, Mendelssohn und besonders mit Robert Schumann. Das Werk bemüht sich um italienische Leichtigkeit und atmet jugendliche Frische. Im Schlusssatz wird Schumann zumindest im Rhythmischen nahezu zitiert. Von einer besonderen Schönheit ist der langsame Satz, das Scherzo ist ein Glücksgriff. Thielemann betonte in den Gesprächen zu seiner Wiener Einspielung, dass er es bedauere, dass diese Sinfonie so unterschätzt werde und versprach, das zu ändern. An drei Abenden in der ausverkauften Berliner Philharmonie hat er damit begonnen, hat die Virtuosität und Souveränität des Orchesters ganz in den Dienst dieses Werkes gestellt und das Publikum hat freundlichst applaudiert, es wären mehr als drei Hervorrufe möglich gewesen, wenn das Orchester nicht sofort das Podium verlassen hätte…
Die nachfolgende d-moll-Sinfonie war ursprünglich Bruckners 2. Sinfonie, geschrieben nach der 1. Sinfonie in c-moll (Linzer Fassung). Später hat Bruckner die 2 aus dem Titelblatt entfernt und „ungiltig“ darübergeschrieben, was zu dem Missverständnis mit der 0 geführt hat: Bruckner versah das Titelblatt mit einem Kringel, der alles hätte bedeuten können, nur keine 0 war. Ungeachtet dessen kam es zu der Bezeichnung „Nullte“ und der Annahme, sie sei vor der 1. Sinfonie geschrieben worden. Beide Werke wurden zu Bruckners Lebzeiten in Wien nie gespielt, die sogenannte „Nullte“ angeblich deshalb nicht, weil der mächtige Otto Dessoff gefragt haben soll: „Ja, wo ist denn das Thema?“ Bruckner, auf Einwände und Kritiken oft empfindlich reagierend, habe es deshalb für „ganz ungiltig“ erklärt und zurück- gezogen – aber nicht vernichtet! Christina Schnauß urteilt: „Insgesamt stellt die Annulierte Symphonie einen Wendepunkt bei Bruckner dar, als dass der mit Kirchenmusik sozialisierte Komponist in seinem symphonischen Schaffen einen deutlichen Weg der Verwendung sakraler Semantik einschlägt und diesen nicht mehr verlässt.“ Sicher erinnert diese Sinfonie schon mehr an den Sinfoniker Bruckner, den das Publikum kennt. Atemberaubend möchte ich die Interpretation Thielemanns mit den Berliner Philharmonikern nennen, im letzten Satz geradezu virtuos, angesichts der immensen Schwierigkeiten namentlich in den Streichern. Der Erwartungshaltung des Publikums hat diese d-moll- Sinfonie offensichtlich mehr entsprochen, als die f-moll-Sinfonie. Das fand ich ungerecht und schade. Aber erst recht wäre es nun an allen drei Abenden, jedenfalls besonders am dritten Abend bereit gewesen, länger zu applaudieren. Gesetz ist offensichtlich Gesetz: nach dem dritten Hervorruf des Dirigenten verlässt das Orchester die Bühne, der Applaus wird jäh abgeschnitten. Nicht alle nahmen das hin, sie applaudierten weiter und schließlich kam der schon im Umzug begriffene Thielemann nochmal allein aufs Podium…
So kann man gut gemeinte und in der Durchführung bestens gelungene Pionierleistungen für Anton Bruckner in seinem Jubiläumsjahr ad absurdum führen, schade!
Werner P. Seiferth
Christian Thielemann kam nach längerem Beifall – das Orchester war längst abgegangen – nochmal zum Verbeugen aufs Podium / 02.03.2024 – Foto: Werner P. Seiferth