BERGAMO / Festival Donizetti Opera: LUCIE DE LAMMERMOOR – Premiere
18.11. 2023 (Werner Häußner)
Foto: Rota
102 Femizide meldet das italienische Innenministerium allein seit Anfang 2023. Eine Zahl, die nach einem erschreckenden neuen Fall in der italienischen Gesellschaft – endlich – für Aufmerksamkeit und Debatten sorgt. Und um allen Ablenkungsmanövern vorzubeugen: Es handelt sich in diesen Fällen um Morde mit signifikanten Merkmalen, im bürgerlichen Milieu, begangen im familiären Umfeld von bis dato unauffälligen Tätern. Der südländische „Machismo“ mag eine Rolle spielen, aber eine der tiefen Ursachen für diese Ausbrüche männlicher Gewalt dürfte ein archaisches Besitzstreben sein, eine uralte Logik der Unterdrückung, ein Mangel an Empathie und eine Unfähigkeit, Gefühle zuzulassen und auszudrücken. So jedenfalls Claudio Mencacci, Präsident der italienischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie, in einem Gespräch mit der italienischen Nachrichtenagentur Ansa.
Ein Thema, das in früheren literarischen Stoffen anders ausgestaltet, substanziell aber präsent ist: in den Opferrollen der italienischen Belcanto-Oper ebenso wie etwa in Stanislaw Moniuszkos „Halka“ oder selbst in Mythen wie Bedřich Smetanas „Libuše“ oder Zdenek Fibichs „Šarka“. Beim Festival Donizetti Opera in Bergamo konfrontiert Regisseur Jacopo Spirei das Publikum mit dem neuesten Femizid-Fall, noch bevor sich der Vorhang für „Lucie de Lammermoor“ öffnet. Donizettis wohl bekannteste Oper benennt in ihrer italienischen Version den Mord an der Geliebten eines vor Eifersucht brennenden Ravenswood in der ersten Cavatina der Lucia, die schildert, wie am Brunnen der Geist der Ermordeten erscheint. Und sie ist ein Beispiel, wie Männer eine Frau durch seelischen Druck ums Leben bringen, ohne selbst eine Hand gegen sie zu erheben. Morde dieser Art tauchen in der Statistik nicht auf; ihre Dunkelziffer dürfte erheblich sein.
In Bergamo spielt man den Donizetti-Klassiker in der selten aufgeführten französischen Neubearbeitung für das Pariser Théâtre de la Renaissance von 1839. Das stiftet doppelt Sinn: Zum einen lernt man eine spannende Weiterentwicklung des „melodramma“ von 1835 kennen, mit der sich Donizetti erfolgreich in Paris ins Spiel brachte und zwei neue Aufträge an Land zog. Zum anderen passt diese Version noch bestürzender zum Thema der patriarchalen Unterdrückung der Frau: Lucia wird jeder Respekt vor der eigenen Persönlichkeit vorenthalten; sie ist nicht mehr als ein Tauschobjekt im politischen Handel. Aber Alphonse Royer und Gustave Vaëz, die Salvatore Cammaranos italienisches Libretto bearbeiteten, malen nicht nur Schwarz und Weiß. Sie heben hervor, dass Sir Arthur, die politisch günstige Partie für Lucia, erheblich zweifelt, ob die junge Frau sich wirklich aus freiem Willen für ihn entscheidet.
Der Lord verstrickt sich ähnlich ahnungslos wie Lucia in die Intrige, die ihm und den Liebenden das Leben kostet und die in Donizettis neu geschriebenen Passagen des ersten Teils der Oper viel deutlicher vorgeführt wird. Drahtzieher ist eine neu eingeführte Figur: Gilbert vereint die Nebenrollen des Normanno und der Alisa aus der italienischen Version in sich: Ein skrupelloser Opportunist und von keinem moralischen Zweifel angekränkelter Jago-Vorläufer. Signifikante Unterschiede zur „Lucia“ von 1835 sind die Reduktion der Figur des Priesters Raimondo und die Integration des Duetts von Henri Ashton und Edgard Ravenswood aus der wegfallenden Szene im Turm von „Wolferag“ in den Schauplatz des Schlosses.
Diese Maßnahmen haben auch ihren dramaturgischen Sinn: Lucia ist nun die einzige Frauenrolle der Oper und verliert in Alisa und Raimondo ihre Unterstützer. Ganz alleine ist sie dem brutalen Zugriff der Männergesellschaft ausgesetzt. Ihre Einsamkeit wird noch betont durch den Ersatz von „Regnava nel silenzio“ mit ihrem Gespensterschauer durch eine Cavatina aus „Rosmonda d’Inghilterra“: In „Que n’avons-nous des ailes?“ träumt Lucie davon, einfach wegfliegen zu können aus der verrotteten Welt der Sterblichen, hin zu den goldenen Sternen. Ein Eskapismus, der ihre aussichtslose Situation nur unterstreicht.
Für Jacopo Spireis einfühlsame Personenregie hat Mauro Tinti eine ästhetische, stimmungsvolle Bühne geschaffen. Im nebligen Wald treffen sich die Männer zur Frauenjagd unter gewaltigen Bäumen. Biertische und –bänke lassen an den „Freischütz“ denken. Agnese Rabatti zitiert in ihren Kostümen assoziativ schottische Motive, nur Sir Arthur darf im Kilt auftreten. Edgard ist mit Lederjacke und Jeans als Außenseiter markiert, dessen „Gräber der Ahnen“ das Skelett eines ausgebrannten Autos ist. In einer zweiten Ebene, durch eine Öffnung sichtbar, wird das deskriptive Bild des Waldes gebrochen: Blutrot geäderte Blätter und immense Blüten schaffen, unterstützt von passendem Licht (Giuseppe di Iorio) unwirkliche Räume. Auch wenn die Bilder manchmal sehr in Richtung Ästhetizismus driften, schaffen sie doch einen für Interpretation offenen Raum.
Der Unstern dieser ehrgeizigen Produktion im Teatro Sociale in Bergamos Oberstadt flackert als eher über den musikalischen Gefilden: Der mit vielen Preisen ausgezeichnete, an der Berliner Staatsoper und in Frankreich tätige Dirigent Pierre Dumoussaud schafft es nicht, mit dem „Orchestra Gli Originali“ ein befriedigendes Konzept für Klang, Phrasierung und dramatische Gestaltung zu entwickeln. Man muss sich nicht bei den ständig überforderten Hörnern aufhalten: Gravierender sind die Mängel in der Balance des Klangs, bei den spröde-glasigen Violinen, der Tempogestaltung, der Ausarbeitung der Tiefenstruktur der Partitur, dem stückeligen Legato und einem Sextett, das eher buchstabiert als in einem großen Bogen genommen wird. Was aus dem Graben kam, war nahe am Desaster.
Foto: Rota
Dazu kam noch, dass Caterina Sala krankheitsbedingt nach dem ersten Teil ihre Partie der „Lucie de Lammermoor“ nicht mehr weitersingen konnte. Nun ist eine von der Seite eingesungene Wahnsinnsszene – auch wenn Vittoriana de Amicis ihren sehr leichten Sopran tapfer zur Geltung brachte – eine zu distanziert wirkende Operation, um mit theatralischer Intensität zu fesseln, auch wenn sich Sala als Darstellerin in blutbesudeltem Kleid nach Kräften mühte.
Als Edgard war Patrick Kabongo zu hören, der in Bad Wildbad in Daniel François Esprit Aubers „Le Philtre“ und andernorts in einigen Rossini-Partien Furore machte. Er verfügt über eine leichte, höhensichere, gut positionierte Stimme mit ebenmäßig gebildetem Ton, entspricht freilich nicht dem Bild des romantisch-italienischen Tenors. Dennoch: Dank einer nahezu perfekten Projektion der Stimme in den Raum bringt er nicht nur die „französische“ tenorale Farbe ein, sondern erfüllt auch die dramatischen Phrasen der Schlussszene „O bel ange, dont les ailes“ mit dem nötigen, brillanten Nachdruck.
Foto: Rota
Auch Julien Henric gefällt mit einem präzis fokussierten, klangschönen Tenor als Sir Arthur. Vito Priantes Bariton wirkt in der Partie des Henri Ashton eher trocken als schmelzend, mit eher harten als düsteren Farben, aber er zeichnet den Bruder Lucies treffend als kalten, kaum berührbaren Manager seines Schicksals. Für David Astorga ist der Intrigant Gilbert eine Paraderolle, die er mit gestalterisch flexiblem, zu galligem Sarkasmus fähigem Tenor ausfüllt. So lag es am Orchester und einem unschlüssigen Dirigat, dass diese „Lucie de Lammermoor“ ein unerfülltes Versprechen bleibt, das hoffentlich an anderer Stelle einmal eingelöst wird.
Werner Häußner