Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

BERGAMO/ Festival Donizetti Opera: CHIARA E SERAFINA von G. Donizetti. Premiere

21.11.2022 | Oper international

BERGAMO / Festival Donizetti Opera: CHIARA E SERAFINA von GAETANO DONIZETTI – Premiere
19.11.2022 (Werner Häußner)

chia2
Der Chor der Accademia dell’Teatro alla Scala unter Salvo Sgrò in „Chiara e Serafina“ von Gaetano Donizetti in Bergamo. Foto: Gianfranco Rota

„Chiara e Serafina“ ist einer der Opern, deren Handlung man besser nicht zu erzählen versucht. Felice Romani, einer der führenden italienischen Librettisten der Zeit, hat für den 25 Jahre alten Gaetano Donizetti eine Geschichte zusammengeschustert, die zwischen Kinderbuch, Piratenabenteuer, Schauerdrama und Groschenroman changiert. Das Ganze war im Herbst 1822 dazu gedacht, dem jungen Komponisten und Lieblingsschüler der geachteten Autorität Giovanni Simone Mayr die Pforten eines der wichtigsten Theater Italiens zu öffnen: des Teatro alla Scala in Mailand.

Schon die Vorbereitungen waren ein Desaster: Romani wurde nicht fertig, Donizetti hatte vier Wochen vor der Premiere gerade mal den ersten Akt vorliegen und begann zehn Tage vor der Uraufführung mit den Proben – und das mit solch verbissene, Eifer, dass man ihm den Spitznamen „maestro orgasmo“ verlieh. Herbert Weinstock zitiert in seiner Biografie einen Brief an Simon Mayr, in dem Donizetti den Misserfolg klar vorhersieht. Es kam offenbar glimpflicher als erwartet, denn das „melodramma semiserio“ wurde zwar kühl aufgenommen, aber noch zwölf Mal gespielt, bevor es im Archiv verschwand, aus dem es nun nach genau 200 Jahren für Bergamo gehoben wurde – in einer kritischen Edition von Alberto Sonzogni auf der Basis des Autographs und rechtzeitig zum 225. Geburtstag Donizettis.

Der Titel benennt einmal nicht ein Liebespaar: Chiara und Serafina sind zwei Schwestern, getrennt durch widrige Schicksale. Chiara wird mit ihrem Vater Don Alvaro auf der Fahrt nach Mallorca gekidnappt und nach Algerien verschleppt; Serafina wächst derweil in Spanien bei einem Vormund auf. Dieser Don Fernando hat aber Übles im Sinn. Er hat durch Verleumdungen bereits ein Todesurteil gegen Alvaro erwirkt und will sich nun mittels seines Mündels das Vermögen sichern.

Zu diesem Zweck setzt ein Täuschungs- und Intrigenscharmützel an, gegen das etwa der „Trovatore“ wie ein Handbuch der Logik und der Psychologie erscheint. Piraten landen an derselben Küste, die der aus Maurensklaverei entkommene, sturmgetriebene Don Alvaro als Heimatgestade erkennt. Deren Anführer Picaro durchläuft eine wundersame Wendung zur Humanität und verlässt sein freibeuterisches Metier, als hätte er bereits von Gilbert & Sullivan gehört. Die getrennten Schwestern finden sich nach einer Irrfahrt durch Geheimgänge, Tunnels und Treppen einer alten unterirdischen Zisterne. Eintausend Piaster für Picaro – der Name erinnert wohl nicht ohne Absicht an Rossinis „Figaro“ – spielen ebenso eine Rolle wie verborgene Dokumente, welche das „lieto fine“ ermöglichen. Keine Gefahren, keine Ängste mehr! So jubelt Chiara in ihrem Schlussrondo ganz nach Art Rossinis.

An diesem Übervater der italienischen Oper seiner Zeit misst sich die Musik Donizettis: „Chiara e Serafina“ ist gekonnte Orientierung am Vorbild, aber nur ausnahmsweise Nachahmung. Crescendi zum Beispiel? Ja, aber nicht wie bei Rossini ins Groteske gesteigert. Ensemblekunst? Ja, aber noch nicht so kunstvoll wie bei Rossini, dafür aber mit einem Zug ins Lyrische, der vielleicht von Simon Mayr herrührt, vielleicht schon die Ansätze von Donizettis Personalstil in sich birgt. Bevor die gerettete Chiara mit „Grazie pietoso ciel!“ in der dritten Szene des ersten Akts für ihre Rettung aus dem Meeressturm dankt, erinnert Donizetti mit lyrischer Intensität an das wunderbare Siciliano, das Rossini dem Auftritt von Tancredi vorausgeschickt hat. Es gibt sensibel gestaltete Duette, düstere Fanfaren wie bei Gluck oder Salieri, melancholische Harfenbegleitung und den dramatisch-düsteren Tonfall aus Mayrs „Medea in Corinto“. Kurzum: Von der Stretta bis zur weiten Kantilene, vom trocken-federnden Rhythmus bis zum komplexen Sextett beherrscht Donizetti das Vokabular der italienischen Oper seiner Gegenwart – aber das Libretto ermöglicht keine gleichmäßige Höhe. Dass eine Uraufführung unter den geschilderten Bedingungen scheitern musste, wird bei der Wiederausgrabung nur zu deutlich.

chia1
Fantasievolle Kostüme zeichnen die Ausstattung von Gianluca Falaschi aus. Hier Fan Zhou als Serafina. Foto: Gianfranco Rota

Dafür kann von einem Scheitern im historischen „Teatro Sociale“ in der Oberstadt von Bergamo nicht gesprochen werden, auch wenn sich das Werk lediglich als liebenswürdige Trouvaille erweist, die wohl kaum für ein heutiges Publikum relevant zu gestalten ist. Regisseur und Ausstatter Gianluca Falaschi – er hat 2021 in Mainz Cileas „Adriana Lecouvreur“ als Regiedebüt in Szene gesetzt – versucht solches erst gar nicht. Er spielt seine Stärke aus: Fünf Türen auf einer Galerie und herzige Pappmaché-Wellen erinnern an Boulevardkomödie und altes Kulissentheater.  Später senkt sich ein buntes Kastell aus dem Schnürboden herab, in dem sich die Darsteller als fantasievoll ausstaffierte Commedia dell’arte-Reminiszenzen tummeln. Falaschi setzt, wie in Italien gern gesehen, auf maßlose, aber vordergründige Übertreibung und meidet damit jeden Anflug eines Verdachts, er könne die handelnden Personen in irgendeiner Weise ernst nehmen.

Ernst genommen wird Donizettis Musik von einem Ensembles namens Orchestra Gli Originali auf historischen Instrumenten. Sesto Quatrini kann ihm freilich nicht viel mehr als einen sanft gestimmten, stets pauschal abgemilderten Klang entlocken. Die Unschärfe liegt vielleicht auch an der Akustik des Theaters, dessen Decke fehlt, wodurch sich der Klang im Gebälk der freiliegenden Dachkonstruktion verliert. Die jungen Sängerinnen und Sänger der „Accademia di perfezionamento per cantanti lirici del Teatro alla Scala“ zeigen schon im ersten Terzett muntere Agilität und gut positionierte, aber wenig geschmeidige Töne: Valentina Pulzhnikova ist eine „seconda donna“ mit einem üppigen Mezzo und mit klarer Artikulation; Giuseppe de Luca gibt einen allzu geradlinig polternden Dorfpotentaten Don Meschino, Mara Gaudenzi zwitschert sich durch die Rolle der Agnese mit einer jenen Singvogelstimmchen, die früher gerne im Koloraturfach eingesetzt, heute aber aus der Zeit gefallen sind.

Der Auftritt des Picaro ist eine wirkungsvolle Nummer. Sung-Hwan Damien Park besingt das „mestiere del corseggiare arg übertrieben. Es zeichnet sich schon ab, dass er kein Korsar aus Leidenschaft ist und bei der sich bald bietenden Gelegenheit zum bürgerlichen Ufer strebt. Auch die von ihrem Betreuer Don Fernando (Mathias Moncado) missbrauchte Serafina findet in der soubrettig getönten, kopfigen Stimme von Fan Zhou nur begrenzten Spielraum, Farbe und Expressivität zu zeigen. In ihrer Arie „Fra quest‘ ombre jedoch überzeugt sie mit empfindsamem, anrührendem Ton im Dialog mit der Solo-Violine. Ihre Schwester Chiara wird von Greta Doveri mit viel versprechendem Material technisch versiert und stilistisch adäquat gesungen.

In weiteren Rollen: Hyun-Seo Davide Park (Don Ramiro), Andrea Tanzillo (Spalatro) und Luca Romano (Gennaro). Vor allem die Musik von „Chiara e Serafina“ macht Freude und Lust auf mehr, sind doch die Opern Donizetti aus der frühen Phase seines Schaffens bis etwa 1830 kaum in Spielplänen präsent. Aber der souveräne Umgang mit den Stilmitteln seiner musikalischen Umwelt weckt Zweifel, ob die Werke tatsächlich die Aufführung so gering lohnen würden, wie es die allgemeine und offenbar kaum informierte Fama über den Komponisten nahelegen will. Das Donizetti-Festival in Bergamo hat die unverzichtbare Aufgabe erfüllt, diese Uralt-Mythen auf den Prüfstand zu stellen.

Werner Häußner

 

Diese Seite drucken