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BERGAMO / Festival Donizetti Opera: ALFREDO IL GRANDE – Premiere

21.11.2023 | Oper international

BERGAMO / Festival Donizetti Opera: ALFREDO IL GRANDE – Premiere
19.11.2023  (Werner Häußner)

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Foto: Gianfranco Rota

Gäbe es einen Wettbewerb um das schlechteste Opernlibretto, hätten Andrea Leone Tottolas Verse zu Gaetano Donizettis Oper „Alfredo il Grande“ alle Chancen auf einen Hauptpreis. Schon der Komponist äußerte sich bitter über das Machwerk, und die Oper, sein Debüt am Teatro S. Carlo in Neapel, fiel so gründlich durch, dass es wohl nur bei einer einzigen (dokumentierten) Aufführung blieb. Erst jetzt nahm das Festival Donizetti Opera in Bergamo den 200. Jahrestag der Uraufführung zum Anlass, „Alfredo il Grande“ einem staunenden Publikum zu präsentieren. Und siehe da, das Stück entfaltet eine Dynamik und einen Reiz, der so gar nicht mit dem Desaster Donizettis Anno 1823 übereinstimmen sollte.

Das liegt nicht so sehr an Tottolas schwer verdaulicher Dichtkunst, die weder zu dramatischer Kohärenz noch zu psychologischer Glaubwürdigkeit durchdringt. Sondern an Donizettis ausgefeilter Komposition. Der 25-Jährige war sich wohl bewusst, was es für seine Karriere bedeutet, für das renommierteste der königlichen Theater der beiden Sizilien zu schreiben. Er verbindet die modernen Ausdrucksmittel des damaligen Stars Gioachino Rossini mit der musikdramatischen Sensibilität seines Förderers Giovanni Simone Mayr und mit der eigenen, schon entwickelten Kunst der Ensembleführung und einer lyrischen melodischen Geschmeidigkeit, die vor allem im zweiten Teil der Oper zu magischen musikalischen Momenten führt.

Musterbeispiel ist die große Szene des Alfredo, eine Arie mit Choreinwürfen, die sich zeitweise zu einem Duett erweitert („Si, vinceremo … Che più si tarda …“), und das folgende Quintett („Traditor! Di un ferro ancora …“). Der lyrische Abschnitt „Celeste voce ascolto …“, in dem Alfredo visionär das Morgenrot der Hoffnung besingt, lässt das Publikum den Atem anhalten: Donizetti wusste um die Wirkung seiner Mittel! Und alleine für solche Augenblicke, in denen die Zeit still zu stehen scheint, lohnt sich die Wiederaufführung des Werks, das nun auch in einer kritischen Edition vorliegt.

Schwerer hat’s der Regisseur. Die Geschichte plausibel zu machen, würde mehr als ein Genie erfordern: Alfredo, der unerkannte König von England (historisch der Westsachsen in Wessex) wird erst von seiner Gattin Amalia in einer bescheidenen Hirtenhütte wiedergefunden, dann aber auch von dem ebenfalls getarnten Dänengeneral, der das englische Reich gerade mit einem Heer bedroht. Kämpfe, Gefangenschaft, Befreiung, noble Gefolgsleute, treue Schäfer, wilde Bergpfade und unterirdische Geheimgänge: am Ende des ersten Akts jedenfalls landet der Däne in der Hand Alfreds, der ihn aber freilässt, damit er ihn auf dem Felde der Ehre besiegen kann – und so noch einen zweiten Akt ermöglicht, in dem es wieder hin und her geht, bis sich endlich das glückliche Ende einstellt.

Stefano Simone Pintor hat sich darauf eingelassen, den Kaffeesatz zu einem aromatischen Melange zu filtrieren. Er arbeitet lustvoll mit den Ingredienzien und mischt sie locker durcheinander: Kostümbildnerin Giada Masi lässt den Chor in Zivil kommentieren (ja, die griechische Tragödie grüßt auch) und gibt ihm Noten in die Hand, die mal in dänische, mal in englische Farben eingebunden sind. So weiß man wenigstens, wer gerade dran ist. Die Protagonisten tragen von Kettenhemd und Priesterkasel bis Fellmantel und Abendanzug alles Mögliche, aber die Kostüme sind mit Hintersinn an die Situationen angepasst.

Die Dänen schleichen sich in Wikingertracht mit Hörnerhelmen aus Stoff herein – aber die genähten Zitate wollen um Gottes Willen nicht historisierend erscheinen, sondern spielen mit Ironie und der Unvollkommenheit von Stegreif-Mummenschanz. Das alles will nicht ganz ernst gelesen werden, macht die Oper aber auch nicht zum bloßen Objekt von Parodie oder szenischer Disqualifikation. Sie lässt auch den Worten Tottolas ihr Recht, der ja nicht unfähig war, sondern dem nordisch-exotischen Schauplatz mit seinen wilden, furchterregenden Naturschauplätzen gerecht werden wollte.

Das verbindende Element bildet die Bühne von Gregorio Zurla: Sie spielt auf den historischen König Alfred (848/49 – 899) an, der ähnlich wie Karl der Große ein Förderer von Literatur und Wissenschaft gewesen ist. Zu Beginn schweben Pergamente über den schwarzen Himmel, später tragen die Protagonisten Bücher mit sich, aus denen sie vorzulesen scheinen, werden mittelalterliche Handschriften und Urkunden projiziert, illustrieren Motive aus der Buchmalerei Emotionen aus der Musik. So entsteht eine bildschöne, mit einem szenischen Lächeln kommentierende Inszenierung, die Brüche nicht verdeckt, sondern nutzt, und die wohldosierte Spuren von Ironie enthält, ohne das Stück in absurden Klamauk abrutschen zu lassen. Eine bezwingende Lösung, die „Alfredo il Grande“ zum klügsten und unterhaltsamsten Abend des Festivals geadelt hat.

Was für ein Glück, dass auch die musikalische Seite mühelos mithalten kann: Das Orchestra Donizetti Opera und Dirigent Corrado Rovaris spielen Rossini-Rouladen und Crescendi ungeniert aus, genießen den vorromantischen Bläsereinsatz Simon Mayrs, in dem die Hörner des „Freischütz“ und der „Semiramide“ widerhallen, stützen und entwickeln die melodische Einfallskraft des jungen Donizetti und lassen seine Rhythmen federnd abspringen. Unter den Sängern zeigt Antonino Siragusa als Alfredo, dass sein reifer gewordener Tenor immer noch mühelos die Höhe erklimmt, im Zentrum trägt, Verzierungen punktgenau setzt, nur die Legati nicht mehr so ebenmäßig wie früher fluten kann.

Gilda Fiume ist die Primadonna, die das sehnsuchtsvolle erste und das jubelnde letzte Wort der Oper hat; anfangs den Fokus der Stimme noch nicht ganz unter Kontrolle hat, sich aber im Lauf des Abends fulminant steigert. Lodovico Filippo Ravizza als Eduardo und Antonio Gares als Guglielmo sind als treue Gefolgsleute Alfredos stimmlich präsent und frei gestaltend. Auch Adolfo Corrado als Dänenführer Atkins macht gute Figur und zeigt einen sonoren, mit Maß und Geschmack eingesetzten Bassbariton. Valeria Girardello singt das Landmädchen Enrichetta mit weichem Mezzo, dem ein wenig mehr „squillo“ gut stehen würde, aber die Tonproduktion ist edel und frei von Druck und Schärfe. Auch ihre Kollegin Floriana Cicìo (Margherita) lässt nichts zu wünschen übrig, ebenso Andrés Agudelo in der kleinen Rolle des Rivers.

Wieder zeigt sich: Mit Kreativität und Fantasie lässt sich aus einem schlechten Plot ein wunderbar schräger Erfolg zaubern, wenn die Regie die Fäden der Logik nicht versucht, glatt zu spinnen, sondern mit lächelnder Lust ihrer Wirrnis folgt. Pintor und sein Team haben mit dieser Trouvaille Vollblut-Theater gespielt und ihrem Publikum einen im besten Sinn unterhaltsamen Abend bereitet.

Wener Häußner

 

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