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BEETHOVEN SYMPHONIEN MAL DREI in neuen empfehlenswerten Ausgaben

02.08.2020 | cd

BEETHOVEN SYMPHONIEN MAL DREI in neuen empfehlenswerten Ausgaben

Eine gute Nachricht für alle Liebhaber hochwertiger Musikkonserven: Es gibt bei allen drei neu editierten Boxen von Beethoven-Symphonien die Wahl zwischen verschiedenen Stilen und Aufführungspraktiken, allesamt gut begründet und in der Tiefe umgesetzt. Allesamt vom Willen getragen, einer Wahrheit auf die Spur zu kommen. Folgen wird diesen mit so viel innerer Überzeugung und musikalischer Qualität gesegneten Spurensuchern. Magische Wünschelrutengänger mit erstklassigen Orchestern lassen Beethoven revolutionäres instrumentales Vermächtnis aufleben, individuell eigensinnig, heutig gedacht und empfunden. Was davon wem wie gefällt, ist auch eine Frage der Offenheit oder des musikalischen Instinkts. Folgen Sie Ihrer inneren Stimme. Wir haben die Wahl!

  1. BEETHOVEN: SYMPHONIEN 1-9, Ouvertüren & EGMONT – STEFAN BLUNIER dirigiert das Beethoven Orchester Bonn; DG Gold

„Mein Dekret: nur im Lande bleiben. Wie leicht ist in jedem Flecken dieses erfüllt! Mein unglückseliges Gehör plagt mich hier nicht. Ist es doch, als ob jeder Baum zu mir spräche auf dem lande: helilg, heilig, heilig! In Walde Entzücken! Wer kann alles ausdrücken?“ Beethoven 1815

Stefan Blunier lässt mit einer ungemein differenzierten und dennoch klanglich überragenden Interpretation aufhorchen. (Anm.: Egmont wird von Dirk Kaftan dirigiert, er ist seit 2017 Generalmusikdirektor des Beethoven Orchesters Bonn). Blunier stellt die Erkenntnisse aus der Originalklangbewegung (Bogenstrich, Phrasierung, Artikulation) in den Dienst eines mit modernem Instrumentarium erarbeiteten Zyklus. Im Großen und Ganzen wahrt er die Tradition der bisherigen großen Interpretationsgeschichte. Mit dem Beethoven Orchester Bonn pflegt er einen ganz tollen sinnlich üppigen Klang mit einer vor Spannung berstenden Dynamik und stromgeladenen Energie (Allegro vivace der Achten!).

Dabei vergisst Blunier nie auf das Sangliche, den natürlichen Fluss der melodischen Motive (erster Satz der Pastorale), das organische Atmen in den Phrasen. Er lässt Beethoven als „Visionär einer Zukunftsmusik mit Vergangenheit“ hochleben. Schroffes darf auch schroff sein, der von männlichem Ego durchdrungene Beethoven kommt genau so zu seinem Recht wie der Witzbold und Poet. Aber niemals geht die Idee eines Werk über musikalische Grenzen, wird Außermusikalisches mit unmusikalischem Gehämmere oder Gekratze beantwortet.  

Es ist die einzige von den hier kurz beschriebenen drei Boxen, die außer den neun Symphonien noch alle Ouvertüren (Die Ruinen von Athen, Zur Namensfeier, Die Geschöpfe des Prometheus, Coriolan, Egmont, Die Weihe des Hauses, König Stephan) sowie eine Gesamtaufnahme der Schauspielmusik zu Goethes „Egmont“ mit Olga Bezsmertna Sopran und einem von der Aufnahmetechnik vernachlässigten und daher kaum zu hörenden Matthias Brandt als Sprecher enthält.

Die guten Solisten der Neunten Beethoven sind Elsa van den Heever, Janina Beachle, Robert Dean Smith und Georg  Zeppenfeld. Es singt der Tschechische Philharmonische Chor, geleitet von Petr Fiala. 

Der Klang ist räumlich plastisch und rund, im Detail präzise und bedient jedes kulinarische Ohr, wie das vom audiophilen Label MDG auch erwartet werden darf. Die Aufnahmen entstanden im Zeitraum 2014 bis 2018.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

  1. BEETHOVEN : THE SYMPHONIES – GIOVANNI ANTONINI dirigiert das Kammerorchester Basel; SONY

„Freilich: dächte man sich Beethoven plötzlich wiederkommend und eines seiner Werke gemäß der modernsten Beseeltheit und Nerven- Verfeinerung, welche unsern Meistern des Vortrags zum Ruhme dient, vor ihm ertönend: er würde wahrscheinlich lange stumm sein, schwankend, ob er die Hand zum Fluchen oder Segnen erheben solle, endlich aber vielleicht sprechen: Nun, Nun! Da ist weder Ich noch Nicht-Ich, sondern etwas drittes – es scheint mit auch etwas Rechtes, wenn es gleich nicht das Rechte ist. Ihr mögt aber zusehen, wie ihr‘s da treibt, da ihr ja jedenfalls zuhören müsst – und der Lebende hat Recht, sagt ja unser Schiller. So habt denn recht und lasst mich wieder hinab.“

Friedrich Nietzsche „Menschliches, Allzumenschliches“ Zweiter Band, Aphorismus 126

Der grauhaarige fesche Wuschelkopf Giovanni Antonini, italienischer Flötist und Leiter des Barockensembles „Il Giardino Armonico“, hat sich etwa in Sachen Vivaldi mit preisüberschütteten Aufnahmen hervorgetan. Nun hat er mit dem Kammerorchester Basel (Symphonien 1-8 mit kleiner Streicherbesetzung: acht erste Violinen, drei Kontrabässe) alle Symphonien von Beethoven eingespielt, und setzt damit die Serie an Aufnahmen mit Kammerorchester (wie vor ihm Adam Fischer mit dem Danish Chamber Orchestra – bei Naxos erschienen) fort. 

Das Phänomen „Ältere Kunst und die Seele der Gegenwart“ wie oben im Zitat von Friedrich Nietzsche beschrieben, bildet für Antonini die Basis für das Hören altbekannter Musik mit neuen Ohren, für die Ausgangslage, etwas anders Sinnvolles zu sagen. Antonini sieht den Notentext wie einen Diamanten: „Je nachdem, auf welche Facette man gerade schaut, ändern sich die Reflexionen. Ich weiß, dass die Aufnahmen nur Schnappschüsse sind, die einen bestimmten Augenblick widerspiegeln, doch sie bewahren etwas, was nicht von außen kommt – eine starke Energie.“

Das Plattenprojekt, das sich von 2004 bis 2016 erstreckte und größtenteils im KKL Luzern realisiert wurde, spiegelt Antoninis erste Begegnung mit Beethoven wider. Wie alle historisch informierten Spielweisen interessiert sich Antonini besonders für artikulatorische Fragen, er selber sagt, besessen von der Artikulation des Klangs zu sein. Damit  schließt er nahtlos an Vorbilder wie Nikolaus Harnoncourt an. Musik als gesprochene Sprache, mit Konsonanten, Vokalen, Prosodie, Akzenten und Tönen. Die Parallelen zwischen sprachlichen und klanglichen Vorgängen bilden den rhetorischen Ursprung seiner Arbeit. 

Antonini geht in seiner Suche nach dem richtigen Affekt über innere Bilder, die die Musik bei ihm auslösen, was der Authentizität, Lebendigkeit und Spontanität der Interpretation zugute kommt. In der Phrasierung will er die Idee eines horizontalen Legato mit der vertikalen Klarheit der Aussprache verbinden.

Für alle, die das mögen, wird die das Barocke zum geehrten Ahnherrn der Aufnahme gewählte Interpretation vielleicht sogar das Non plus ultra sein. Im Booklet wird ein schöner Vergleich des Komponisten und Geigers Giuseppe Camping über Beethovens Musik zitiert: “Erst ergreift er deine Seele mit süßer Melancholie, dann zerreißt er sie mit einer Masse barbarischer Akkorde. Er scheint Tauben und Krokodilen gleichzeitig Unterschlupf zu gewähren.” Ich finde die Box aufregend und mitreißend, auch die Legati kostet Antonini wunderschön einfühlsam aus. Da kann er die Musik wieder gebunden fließen lassen. Im Vergleich mit dem Beethoven Orchester Bonn gehen mir aber Klangfarben bei den Streichern und dem Blech ab und erscheint die Akzenteregie zu eindimensional.

Das flotte Durchziehen der Tempi, das “rhythmische Pulsieren”, die kantigen Akzente und der permanent aufs Neue aufheizende dramatische Energieschub haben stets den gefühlten Primat. Wenngleich der Italiener weitaus weniger teutonische Ecken und Härten produziert als andere Originalklangdirigenten, wirkt der dramatische Ansatz im ersten Moment faszinierend und hat den sogenannten “Wow”-Effekt. Auf Dauer ermüden (mich) der kaum gebrochene Vorwärtsdrall und der allzu knallige Einsatz der Bläser (die oft unschön blechern klingen) als dramaturgische Stilmittel. Ich kann diese Aufnahmen mit Vergnügen nur wohldosiert hören. Das Klangbild ist brillant, weist aber auch vereinzelt Schärfen auf. 

Die Solisten der Neunten sind mit Regula Mühlemann, Marie-Claude Chappius, Maximilian Schmitt und Thomas E. Bauer adäquat besetzt. Es singt der NFM Chor unter der Leitung von Agnieszka Frankow- Zelazny.

Hinweis: Unter Antoninis Leitung wird das Kammerorchester Basel im Wechsel mit dem italienischen Ensemble Il Giardino Armonico bis ins Jahr 2032 alle 107 Sinfonien Joseph Haydns aufführen und auf CD einspielen.

Dr. Ingobert Waltenberger

 

3) “BEETHOVEN REVOLUTION” – Jordi Savall dirigiert die Symphonien 1 bis 5 mit Le Concert des Nations; AliaVox

“ So öffnet uns auch Beethovens Instrumentalmusik das Reich des Ungeheuren und Unermesslichen. Glühende Strahlen schießen durch dieses Reiches tiefe Nacht, und wir werden Riesenschatten gewahr, die auf- und abwogen, enger und enger uns einschließen, und alles in uns vernichten, nur nicht den Schmerz der unendlichen Sehnsucht, in welcher jede Lust, die, schnell in jauchzenden Tönen emporgestiegen, hinsinkt und untergeht, und nur in diesem Schmerz, der , Liebe, Hoffnung, Freude in sich verzehrend, aber nicht zerstörend, unsre Brust mit einem vollstimmigen Zusammenklange aller Leidenschaften zersprengen will, leben wir fort und sind entzückte Geisterseher.” E.T.A Hoffmann vom 4.7.1810 in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung

Jordi Savall und Le Concert des Nations legen mit ihrer sehr fein, immer schlank, klangschön und nie martialisch musizierten Interpretation wiederum Zeugnis davon ab, wie umgekehrt zur stilistischen Aneignung von Originalklang-Spielweisen durch moderne Orchester dieses berühmte katalanische Originalklangensemble in Sachen Phrasierung durchaus große Bögen spannt und die Streicher seidig klingen lässt. Eine eindeutig neu bzw. alt gedachte Temporegie und die dynamische Ausreizung des Möglichen sind stupende Zutaten einer in vielen Seminaren erarbeiteten Sicht auf die Entstehungszeit. Die Grundlagen für die Neuinterpretation wurden wissenschaftlich erarbeitet. Dabei ging es vor allem um die Frage, wie der ursprünglich originale Klang in Anbetracht der zu seiner Zeit gebräuchlichen Orchesterinstrumente wieder gefunden werden kann. 

Savall befolgt die Metronomangaben Beethovens aufs Wort. Zur Machbarkeit stützt er sich auf den Experten Rudolf Kolisch, der zum Ergebnis kommt, dass “zumindest alle originalen Tempi für Streicher auf der Grundlage der heutigen durchschnittlichen Spieltechnik ausführbar sind.” Das so wohl noch nie austarierte Gleichgewicht der Klangfarben erreicht Savall mit einem natürlichen Orchesterklang aus zeittypischen Streichinstrumenten mit Darmsaiten und historischen Bögen, Blasinstrumenten aus Holz wie Flöten, Oboe, Klarinette, Fagotts und Kontrafagotts, Metallinstrumenten wie Barockposaunen, Hörnern und Naturtrompeten sowie den Pauken der Epoche, die mit Holzschlägeln gespielt werden. Und selbstverständlich mit der in der damaligen Epoche gebräuchlichen Stimmung von 430 Hz. (seit 1939 440 Hz., in Österreich heute 443 Hz.).

Die Stärke der Besetzung folgt den von Beethoven bei den ersten Aufführungen verwendeten, d.h. 55 bis 60 Musiker je nach Werk. Unter den Mitwirkenden befinden sich 35 Instrumentalisten aus dem Ensemble “Le Concert des Nations”, die restlichen 20 Orchestermitglieder stammen aus Europa und anderen Kontinenten. Sie haben in einem Auswahlverfahren gezeigt, dass sie zu den besten ihrer Generation gehören. 

Der erste Teil des auf alle Symphonien ausgelegten Projekts liegt mit dem nunmehrigen Album vor. Die Vervollständigung wird wegen der Einschränkungen durch die Pandemie nun wohl etwas länger dauern als ursprünglich geplant. 

Jordi Savall  sieht Beethovens Orchester “nicht als Instrument der Kraft, kein Sprachrohr und auch keine orchestrale Einkleidung seines musikalischen Denkens. Es ist dessen Körper, es ist dieses Denken selbst.”  Auf jeden Fall bieten die Symphonien 1 bis 5 die ungewöhnlichsten Hörerfahrungen unter den Neuerscheinungen. Der Orchesterklang ist von einer unglaublichen Wärme. Es geht also doch auch anders in der Welt der Originalklänge, mit wohldosiertem Vibrato in den Streichern sowie rund und edel klingenden Blechbläsern. Ein Zitat von André Tubeuf schien mir zur plastischen Beschreibung der Interpretation des katalanischen Alte Musik Gurus passend: “Dieser Beethoven ist hager wie El Greco oder wie der gekreuzigte Christus mit der Dornenkrone vom Isenheimer Altar. Modern? Nein. Aber mit wiedergewonnener Kraft, die seine Gegenwart als Mensch, seinen Schmerz und seine strahlende Brüderlichkeit herstellt.”

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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