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BAYREUTH BAROQUE / Markgräfliches Opernhaus FLAVIO; Gefährliche Liebschaften und angepatzte Hermelinehre

16.09.2023 | Oper international

BAYREUTH BAROQUE / Markgräfliches Opernhaus FLAVIO; 15.9.2023

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Rémy Brés-Feuillet, Yuriy Mynenko. Copyright: Clemens Manser

Gefährliche Liebschaften und angepatzte Hermelinehre

„Wir wollen die ganze Verkommenheit der damaligen Zustände zeigen. Mord, Korruption, Machtgier, Dekadenz und Ausschweifungen aller Art. Mit ist es wichtig hervorzuheben, dass Händels Opern nicht nur dem Amüsement der höheren Gesellschaftsschichten dienten, sondern dass Händel explizit politische Werke schuf – und sei es auch nur, um sich selbst die Hände rein zu waschen.“ Max Emanuel Cencic

Die Festwochen alter Musik in Innsbruck 1989 taten es, das Festival „Bayreuth Baroque“ will dem 2023 in der ersten nachpandemischen Saison um nichts nachstehen: Händels selten gespielte tragikomische Politsatire „Flavio“ wird szenisch zur Diskussion gestellt, und das im voll geöffneten und ausverkauften Haus. Erstmals standen 2023 mit „Flavio“ und einer bearbeiteten Version von Monteverdis „L’Orfeo“ zwei szenische Produktionen auf dem Spielplan des noch jungen, von Max Cencic 2020 ins Leben gerufenen „Bayreuth Baroque“. Es hat seine Wurzeln in der Serie „Bayreuther Barock“, die in den Jahren 2000 bis 2009 stattfand.

Cencic setzt in seiner Inszenierung in historisierendem Bühnenambiente auf eine ausgeklügelte Personenregie und nimmt dabei höfisches Leben und Typen aufs Korn, die in der Allgemeingültigkeit ihrer windschiefen Charaktere bzw. ihres Handelns auch heute noch genügend Spielraum zur Identifikation bzw. humorvollen Ironisierung lassen. Es mögen aktuell erfolgreiche Netflix-Kostümschinken wie „Bridgerton“, „Die Kaiserin“ oder „Die letzten Zaren“ Pate für die optisch so minutiöse, bombastisch wie satirische Aufarbeitung gestanden haben, Cencic und seinem Leading Team Helmut Stürmer (Bühnenbild: sechs paraventartig miteinander verbundene Raumteile, die beliebig „biegbar“ und gewendet bei flott händischem Umbau allerlei szenische Variationen erlauben), der Rumänin Corina Gramosteanu (Kostüme) und Romain De Lagarde (Lichtdesign) ist eine unterhaltsame, abwechslungsreiche und humorvolle Verballhornung des sich in Bizarrerien suhlenden Königtums und des katholischen Absolutismus des 18. Jahrhunderts gelungen. Der politisch denkende und geschickt den Zeitgeist nutzende Komponist hat für die letzte Produktion im King’s Theatre der Saison 1723 ein Libretto von Nicola Francesco Haym in Musik gesetzt. Flavio, antiheroische Komödie mit tragischen Untertönen (Winton Dean), geht auf ein venezianisches Drama von Matteo Noris aus den 1680-er Jahren zurück, das schon Allessandro Scarlatti eine Oper wert war.

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Julia Lezhneva, Max-Emanuel Cencic. Copyright: Clemens Manser

Im Stück wurden Elemente von Corneilles Tragödie „Le Cid“ (Eifersüchtiges, karrieregetriebenes Gerangel zwischen zwei königlichen Beratern und Rache des Sohnes für die Erniedrigung des Vaters) und Episoden aus der lombardischen Geschichte zu einem süffigen Barockopernstoff amalgamiert. Von Noris zu Haym haben etliche Figuren Federn lassen müssen. Cencic hat in seiner Inszenierung mit einem beherzten Schauspieltrupp gestrichene Figuren wie die Königin und die Diener pantomimisch in die Aktion eingefügt. Das gibt mannigfaltige Gelegenheit, Genreszenen der bildenden Kunst zu karikieren, aber auch die Interaktion etwa des infantil-erotisch überaktiven Flavio samt Hofstaat mit allerlei groteskem Personal anzureichern.

Da gibt es den Hofzwerg, der schon einmal die Königin rannimmt oder zwei groß- und barbusige Hofdamen, die dem lustvollen „Aufganseln“ des Königs begeistert nachkommen. Man ist gelangweilt und oversexed, hormongesteuert und kindisch.

Was aber viel wichtiger und musikgeschichtlich relevant ist: Händel hat abseits der für die Aufführung akribisch recherchierten politischen Grundierung – da spielt die Familiengeschichte des ersten Viscounts von Bolingbroke eine Rolle – der Übertreibungen wie komischen Absurditäten so etwas wie eine Vorläuferoper von Mozarts „Così fan tutte“ geschaffen. Winton Dean: „Die Partitur lebt von emotionalen Gegenströmen, die zwischen Tragödie und Posse, Ironie und Pathos wundervoll ausgeglichen bleiben. Man kann Händel nur mit Mozart vergleichen, wie er hier so viele Gefühlsschattierungen ohne irgendein Missverhältnis miteinander verbindet.“

Unsere zwei Paare Emilia und Guido sowie Vitige und Teodata reizen die Grenzen der Belastbarkeit menschlicher (Liebes) Beziehungen in extremis aus. Was spielerisch beginnt, geht für alle schlecht aus. Der feige Schleimer Vitige, Adjutant des Königs, führt seine Partnerin Teodata nur allzu leichtfertig dem sexuell unersättlichen König zu. Die Rechnung, dass Teodata widersteht, geht natürlich nicht auf. Da wackelt schon mal der Baldachin des königlichen Betts auf der Bühne. Vitige wird damit leben müssen, dass seine künftige Frau gleichzeitig die Geliebte des Königs ist.

Guido wiederum lässt sich aus Gründen eines idiotischen Ehreerhalts in die Intrigen und die Watschenaffäre seines Vaters Ugone mit Lotario, beides angeblich Staatsmänner, hineinziehen. Aufbrausend fordert der Sohnemann Lotario, der zuvor seinem Vater Ugone eine gehörige Ohrfeige (Ugone wird von Flavio nach London an Stelle des ranghöheren Lotario als Statthalterersatz für den altersschwachen Narsete geschickt, damit er Fahrt frei auf dessen Tochter Teodata nehmen kann) verpasst hat, zum Duell. Als er den Vater seiner geliebten Emilia niedersäbelt, ist klar, dass das auch ihrer beider Liebe den Todesstoß versetzen wird. Händel gelingt es – wie später Mozart – die ambivalenten Gefühls- und Seelenlagen der vier jungen Menschen, ausgestattet mit einem pandämonischen Kaleidoskop an Zwischentönen menschlicher Abgründe und Niedertracht, in herrlichste Musik zu wandeln.

Der Hermelin achtet nicht seines Lebens, fürchtet er eine Belfleckung seines reinen Weiß, das ihn allen so kostbar macht“, weiß Guido. Anders als in Così gibt es in „Flavio“ nicht nur einen „Spielmacher“ bzw. fies-rechthaberischen Egomanen. Ugone wird, die Bürde der Rache seinem Sohn Guido aufgedrückt und so sein Leben zerstört habend, am Ende der Oper jubilierend nach London gehen. Flavio wird sich weiter mit Teodata amüsieren, am kleinen Gefühlsmitleidrest darf dann Vitige nächtens nagen.  

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Max-Emanuel Cencic. Copyright: Clemens Manser

Musiziert wird in dieser oftmals amüsanten wie nachdenklichen Spielaufstellung mehr als vorzüglich. Dem zu kontrastreichem Spiel animierenden Dirigenten Benjamin Bayl, der das Concerto Köln vom geschmeidigen Piano bis zu zackigen Rhythmen in den tänzerisch beschwingten, humorvollen Arien alles abverlangt, steht ein exzellentes Ensemble zur Verfügung. Wir können heute ja nur noch spekulieren und fantasieren, wie wohl die Cuzzoni und Senesino als Emila und Guido geklungen haben mögen. Max Emanuel Cencic mit seinem bernsteinfarben glühenden Alt in Höchstform und die koloraturzwitschernde „Barock-Gruberova“ Julia Lezhneva als in den Kadenzen frei improvisierende Emilia lassen keine Wünsche offen. Erfreulich, dass auch das zweite Liebespaar Vitige und Teodata mit dem ukrainischen Countertenor Yuriy Mynenko und der Mezzosopranistin Monika Jägerova vokal ganz ausgezeichnet agieren. Als wahre Entdeckung an Spielfreude, schauspielerischer Überdrehtheit und raffiniertem Ziergesang erweist sich der französische Countertenor Rémy Brés-Feuillet in der dankbaren Rolle des launischen, in Entscheidungsfragen aber bewundernswert relaxten Königs Flavio. Ihm hat der Regisseur Cencic die witzigsten Szenen verpasst: Köstlich, wenn der König das Gesicht beim öffentlichen Beischlaf mit der matronenhaften Königin (wunderbar Eirini Patraki) zu einer angeekelten Grimasse verzieht und zwischen den Stößen von Teodata schwärmt, oder später beim öffentlichen Bad die wütenden Schrubbereien seines Adjutanten Vitige über sich ergehen lassen muss. Das ist Situationskomik vom Feinsten. Typengerecht werden auch Lotario vom saftig virilen Bassbariton Sreten Manojlovic und Ugone vom Schweizer Tenor Fabio Trümpy verkörpert. Filippa Kaye überrascht als Hofdame mit einer kleinen Sangeseinlage.

Der Bayerische Rundfunk bietet einen Livestream von Händels Flavio am Sonntag, dem 17 September ab 19h30 an.

https://www.br-klassik.de/concert/ausstrahlung-3330332.html

Dr. Ingobert Waltenberger

 

 

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