Theater Basel: „Vor Sonnenaufgang“, Schauspiel von Ewald Palmetshofer nach Gerhart Hauptmann, UA 24.11.2017
Steffen Höld, Cathrin Störmer © Sandra Then
Das 1889 von Gerhart Hauptmann verfasste Sozialdrama, das den deutschen Naturalismus einläutete, löste bei seiner Premiere einen so grossen Skandal aus, dass es seinen Autor schlagartig berühmt machte. So grausam realistisch hatte bisher niemand das Leben beschrieben – dagegen war Ibsen geradezu ein esoterischer Romantiker. Der österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer aktualisierte nun das Stück, verschlankte dabei dankenswerterweise Personenzahl, Akte und Schauplätze und hob jegliche zeitliche und örtliche Verankerung auf. So kommt das Drama der Familie Hoffmann völlig zeitlos und ortsungebunden daher, dabei tatkräftig unterstützt durch eine beinahe nicht vorhandene Bühne in Form eines gelbgrünen Schuhkartons, der mit Vorhang, Tisch und Stühlen wie das Puppenhaus eines krankhaften Minimalisten wirkt. Ablenken tut hier nichts – die Akteure in ihren blassen Alltagsklamotten verschmelzen beinahe mit dem Hintergrund – nur die beiden Fremdkörper, Helene und Alfred, stechen durch ihre roten resp. schwarzen Kleider heraus (Bühne & Kostüme: Marie Roth).
Nach „Edward II. Die Liebe bin ich“ nach Christopher Marlowe holt Palmetshofer bereits den zweiten B-Klassiker aus der Versenkung und setzt auch hier wieder auf die bewährte Zusammenarbeit mit der österreichischen Regisseurin Nora Schlocker. Und die funktioniert bestens: Findet sich der Zuschauer doch nicht nur angesprochen, sondern bald schmerzhaft blossgestellt. Da sind sie doch alle, die typischen alltäglichen Konflikte: Firmeninhaber Egon Krause (herrlich defätistisch: Steffen Höld), der weder in der Firma noch daheim viel zu sagen hat und die ständige Niederlage im Kleinkrieg gegen seine stets zu perfekte Ehefrau im Alkohol ertränkt. Seine zweite Frau Annemarie (mit der mit Abstand besten Performance des Abends: Cathrin Störmer), die verzweifelt die Familie (und die Firma) am Laufen zu halten versucht, aber als Stiefmutter der beiden „Mädchen“ Martha und Helene nach dem frühen Tod der Mutter 25 Jahre später immer noch mit anhören muss, wie diese in ihrer Not nach der leiblichen Mutter rufen. Die unglückliche und deshalb dauernd keifende schwangere Martha (die Urschreie nach ihrer Totgeburt sind oskarreif: Myriam Schröder), die nicht nur das Ende ihrer Ehe mit dem ehemaligen Angestellten und jetzigen Juniorchef Thomas Hoffmann (Michael Wächter) fürchtet sondern auch den Rückfall in die Familienkrankheit Depression, die wie „ein schwarzer Hund“ auf der Familie sitzt (bestens vertreten durch die tristen Klänge von Marcel Blatti).
Verdichtet wird das Drama durch die Ankunft der gescheiterten Single-Schwester Helene (unterhaltsam lakonisch: Pia Händler), deren jahrelange Rivalität mit Martha darin gipfelt, dass Thomas schliesslich meint, die falsche Schwester geheiratet zu haben. Endgültig aus dem Gleichgewicht gebracht wird das bereits konfliktbeladene Familienleben aber durch die Ankunft von Thomas‘ Studienfreund Alfred Loth (Simon Zagermann), der nicht nur eine Affäre mit Helene beginnt, sondern auch grundsätzlich gegensätzliche politische Ansichten zu Thomas vertritt.
Gefangen im deterministischen Strudel drehen sich die Protagonisten unaufhaltsam dem Abgrund zu, in den sie aber gemeinerweise nie stürzen. Die Ankunft von Dr. Peter Schimmelpfennig (Thiemo Strutzenberger), ebenfalls Studienfreund von Thomas und Alfred, kann Marthas Totgeburt nicht verhindern. Der durch grelles Scheinwerferlicht heraufbeschworene Sonnenaufgang beleuchtet die Tragödie in ihrer ganzen Grausamkeit, die eigentlich darin liegt, dass der Alltag eben genauso oder irgendwie ähnlich weiterläuft.
Besser fühlt man sich nicht nach den gut zweidreiviertel Stunden, aber seltsam zuversichtlich, dass es in anderen Familien auch nicht besser zugeht.
Alice Matheson