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BASEL/ Theater: TIEFER GRABEN 8 von Christoph Marthaler. Premiere

17.12.2024 | Oper international

THEATER BASEL: TIEFER GRABEN 8 von Christoph Marthaler

 am 15.12.2024 (Premiere)

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Ensemble. Foto: Walter Mair

 Mit der Adresse Tiefer Graben verbindet man in Wien ja eigentlich nur das Hotel Orient, das schönste Stundenhotel Europas, in dem jeder Wiener/jede Wienerin aus Tradition schon einmal ein Schäferstündchen verbracht hat, aber trotzdem vorgibt, noch nie davon gehört zu haben geschweige denn die Adresse zu kennen.

Wenn man also liest, dass Christoph Marthalers neuestes Musiktheaterprojekt den Titel Tiefer Graben 8 trägt, ist man sofort fasziniert und erhofft sich naturgemäß etwas Pikantes davon. Das ist leider nicht der Fall, denn Marthaler bezieht sich bloß auf eine der ca. 60 Wohnungen, in der Beethoven gehaust (und hier sogar im 3.Stock Karten für seine Akademien eigenhändig verkauft) hat, eben mit der Anschrift Tiefer Graben 8…während sich das Hotel Orient auf Nummer 30 befindet.

Aber nicht nur vom Stundenhotel ist an diesem Abend nichts zu sehen, sondern auch nicht von Ludwig van – nur die Musik im Tiefen Graben stammt ausschließlich von ihm. Seine häufigen Wohnungswechsel dienen lt. Programmheft nur als Metapher für unser aller Unbehaustheit, denn „wo und wie wir wohnen hängt von finanziellen und politischen Verhältnissen, von der Gier (oder Bescheidenheit) des Vermieters, den Charaktereigenschaften und Stimmungsschwankungen von Mitbewohnern, Hausmeistern und Nachbarn ab“.

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Foto: Walther Mair

Und somit sehen wir in zwei pausenlosen Stunden wie üblich – aber nach langer Zeit wieder in höchster Qualität – das seit Jahrzehnten bekannte und erprobte Marthaler – Universum vor uns Revue passieren: abgeschabte Loser in hässlichen Klamotten (die gelegentlich, kein Mensch weiss warum, gegen gleich oder noch hässlichere Klamotten ausgetauscht werden), es gibt keine Personen, die einen Charakter haben, es gibt keine Figuren, die eine Entwicklung mitmachen, es gibt nur Marthaler-Marionetten, es gibt nur Darstellerdarsteller, die einfach auf – und abtreten und knochentrocken ihre Statements abliefern. Dazwischen werden Teppiche auf- und wieder eingerollt, werden Ehebetten geschleppt, wird versucht, einer riesigen Tuba Töne zu entlocken, tritt ein Chor auf und singt, fällt jemand unvermittelt zu Boden, senkt sich ein Neonstern auf und nieder., usw.usf…es ist wie immer kein durchgehendes Prinzip zu erkennen, es könnte alles so oder ganz anders sein. Und das Ganze spielt in einem klassisch-hässlichen Bühnenbild von Anna Viebrock, das dreigeteilt und mit ebenfalls aus keinem erkennbaren Prinzip zusammengewürfelten Versatzstücken versehen, unübersehbar ihrem Konstrukt zu Riesenbutzbach (2009 bei den Wiener Festwochen) ähnelt. Aber wo Marthaler/Viebrock draufsteht, ist halt Marthaler/Viebrock drin…

Dessen ungeachtet gibt es trotz dieser ästhetischen Zwangsverelendung natürlich auch wieder unendliche zarte, poetische, berührende Momente, und auch sehr sehr viele extrem witzige Szenen. Das ist insofern überraschend, als die Texte dazu von (Neuzugang im Marthaler-Universum !) Heimito von Doderer stammen, den man doch bisher eigentlich für einen ekelhaften epischen Langeweiler gehalten hat. In diesem Fall ist der Zusammenhang ausnahmsweise stringent und nachvollziehbar: denn für Doderer war Beethoven „der Held und Mann überhaupt“ und ihm widmete er seine Kurzgeschichtensammlung mit der musikalischen Bezeichnung „Divertimenti I – VII“, aus der die meisten der hier verwendeten Dialoge und Suaden stammen. Zum Brüllen komisch, glauben Sie‘s mir…

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Foto: Walter Mair

Alle diese Vorzüge werden aber von einem absoluten Super-Atout total übertrumpft : der ausschließlichen Verwendung von Beethovens Musik. Die Auswahl ist vollkommen mind-blowing: Lauter mehr oder weniger unbekanntere Stücke, darunter auch viele von Johannes Harnelt instrumentierte unverwendete Skizzen aus dem Nachlass, alle ohne Furor und Pathos und Pomp – kein Schicksal, das an die Tür klopft, keine Millionen, die umschlungen werden müssen. Der Abend krempelt unser gewohntes „titanisches“ Beethoven-Bild gehörig und nachhaltig um: ein ganz anderer, mitmenschlicherer, verzweifelter, zerrissener, zerstörerischer und selbstzerstörerischer, kompromissloser, geprüfter, einsamer, aber auch zärtlicher, liebender und hoffnungsgläubiger Ludwig entsteht da in unseren Ohren und vor unserem geistigen Auge.

Das alles, wie immer bei Marthaler (der ja als Theatermusiker angefangen hat) exzellent dargeboten von den Schauspielerinnen und Schauspielern, dem Chor und dem Sinfonieorchester Basel unter Sylvain Cambreling. Allein dieser Soundtrack lohnt einen Besuch in Basel. Bitte macht eine CD daraus !

 

Robert Quitta, Basel

 

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