Theater Basel: Max Frisch: Graf Öderland – Premiere 14.2.2020
©Birgit Hupfeld
Ein Bankangestellter ermordet scheinbar ohne Motiv einen Hauswart mit einer Axt. Der mit dem Fall betraute Staatsanwalt Martin ist fasziniert und flüchtet sich immer mehr in eine Traumwelt, in der er als Graf Öderland kurzerhand beseitigt, wer ihn stört. Dass ihm immer mehr Anhänger zulaufen und er nun von der Kanalisation aus eine (erfolgreiche) Revolte gegen das Establishment führt, ist dann schon fast die logische Konsequenz.
Immer wieder schrieb Max Frisch das Stück um, seine Bearbeitungen fielen aber bei Kritikern wie Publikum durch. Dennoch (vielleicht aber auch deswegen) blieb es Frischs Lieblingsstück.
Der Schweizer Regisseur Stefan Bachmann bestätigt hier, warum er den renommierten österreichischen Nestroy-Preis schon zweimal bekommen hat. Seine Inszenierung des beinahe unspielbaren Stücks beeindruckt, vor allem durch das die Bühne (kongenial geschaffen von Olaf Altmann) beherrschende überdimensionale, sich trichterförmig nach hinten verengende Kanalrohr, durch das die Protagonisten hinabrutschen, -torkeln, -stolpern und –fallen, bis sie auf der Bühne landen als wäre diese die Kanalisation der Menschheit.
Steffen Höld (dem Basler Publikum noch bestens als Romulus der Grosse in Erinnerung) glänzt als der mörderische Bankangestellte, der im Gefängnisoutfit in der Röhre kauernd völlig ruhig, bescheiden und unaufgeregt erklärt, dass er den Mord schlicht aus Langeweile begangen hat, um dem drögen Bankalltag einmal zu entkommen. Hinreissend, wie er mit der Strafe völlig einverstanden ist und seinen Anwalt Dr. Hahn (ausgezeichnet: Simon Zagermann) mit einem Geständnis zur Verzweiflung bringt, das keinerlei mindernde Tatumstände zulässt.
Staatsanwalt Martin (herrlich verwirrt verkörpert von Thiemo Strutzenberger) lässt dieser Fall nicht los. Bei seiner Frau Elsa (Barbara Horvath) stösst er mit seiner Faszination auf Unverständnis (vielleicht auch deren Affäre mit Dr. Hahn geschuldet). Ganz anders reagiert seine aufreizende Haushälterin Hilde (Linda Blümchen), die ihn mit ihren Geschichten des legendären Grafen Öderland in den Bann zieht und ihm mit dem Verbrennen seiner Akten den entscheidenden Schubs in Richtung Anarchie gibt. Schliesslich bricht der Staatsanwalt aus seiner Existenz aus und zieht mit seiner Axt eine blutige Spur durch alle Schichten der Gesellschaft.
Bald schart sich eine Bande um den „Grafen“, die sich in der Kanalisation (grosse Ratten inklusive) verborgen hält. Auf einem Empfang fordert er die Regierung auf, ihm die Residenz zu übergeben. Als die Dame Coco (wieder Linda Blümchen), die ein Gespür dafür hat, wem sich das Schicksal zuneigt, ihn auf den Balkon führt, jubelt ihm das Volk zu. Als Staatsanwalt Martin wieder zur Besinnung kommt, meint er, nur geträumt zu haben, wird aber vom Präsidenten des Besseren belehrt, der ihm die Macht (das Gegenteil von Freiheit) übergibt.
Dabei ist die rasante Vermehrung der Anhängerschaft, die schnelle Umkehr der Machtverhältnisse erschreckend. Dass solche Dinge nicht nur im syrischen Bürgerkrieg passieren können sondern auch in der friedlichen Schweiz, kann man dann ja mal beobachten, wenn der Coronavirus das Tessin erreicht hat…
Ein Mord ohne Motiv ist absurd. Doch fehlt es denn wirklich? Die Gefangenschaft im Hamsterrad der eigenen langweiligen Existenz, ohne dass man das Recht hätte, sich zu beklagen, der Mangel an einem zumutbaren Mordmotiv wie Liebe, Hass, Eifersucht, Geldmangel, Arbeitslosigkeit etc. ist ja geradezu selbst ein Mordgrund.
Ganz ehrlich, wer hätte nicht schon mal zur Axt greifen wollen? Eben.
Alice Matheson