BASEL: DIE TOTE STADT– Ergreifend, eindrücklich, erstklassig!
Theater Basel – Grosse Bühne – Korngolds „DIE TOTE STADT“ – Pr. 17.09.16
Überragendes Duo: Helena Juntunen (Marietta) und Rolf Romei (Paul), Foto: Sandra Then
Das Theater Basel eröffnet die Opernsaison 2016/2017 mit Erich Wolfgang Korngolds Meisterwerk „Die tote Stadt“ (1920). Kaum zu glauben, dass ein solch dramaturgisch dichtes, musikalisch hoch komplexes Werk aus der Feder eines gerade mal 23-jährigen Komponisten stammt.
Es ist schlicht und einfach grandios, wie das Stück szenisch und musikalisch auf der Bühne des Theater Basel umgesetzt wird! „Die tote Stadt“ ist die erste Operninszenierung des Hausregisseurs Simon Stone, der 2016 in der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Theater heute“ für seine Inszenierung von Ibsens „John Gabriel Borkman“ zum Regisseur des Jahres gekürt wurde. Stone begeistert durch seine feinfühlige, psychologische Lesart. Er kreiert eindrückliche Bilder, die einen nicht mehr loslassen und entfaltet einen magischen Sog, der einen in die Geschichte, in deren Zentrum der „Kampf eines modernen Mannes (Paul) mit seinem Gewissen“ (Simon Stone) steht, hineinzieht: ein mitreissender Psychothriller.
Wesentlich zum Gelingen des Abends tragen Helena Juntunen und Rolf Romei bei, die nicht zuletzt darstellerisch brillieren und ihre höchst anspruchsvollen Partien (beide sind fast permanent auf der Bühne) mit Bravour meistern. Die Finnin Helena Juntunen (in der Doppelrolle als Marie/Marietta) besticht durch ihre voluminöse, nuancenreiche dramatische Sopranstimme, die sich in der Höhe zu einer ungeheuren Stimmgewalt entfaltet. Der Tenor Rolf Romei verkörpert in überragender Weise die Rolle des psychisch labilen Paul im steifen Anzug mit strengem Kurzhaarschnitt (Kostüme mit viel Liebe zum Detail: Mel Page). Paul kann sich von seiner Frau Marie, die vor Jahren dem Krebs erlag, nicht lossagen. Er scheint jeden Moment im Leben Maries auf Fotos festgehalten zu haben. Diese tapezieren die Wände einer kleinen Kammer, in der Paul in fein säuberlich beschrifteten Kartons alle Utensilien, die ihm von Marie übrig geblieben sind, konserviert. Nur mit blauen Gummihandschuhen fasst er die in einzelnen Plastiktüten verpackten Gegenstände an. In einem Schrank hat er eine Art Altar mit Blumen und Kerzen errichtet, wo er Maries Perücke wie eine Reliquie hütet. Paul gerät mit seinem Gewissen in Konflikt, als er der Tänzerin Marietta, die seiner verstorbenen Frau aufs Haar ähnlich sieht, begegnet und sich in sie verliebt. Stone erkennt das Schlager-Potential von „Glück, das mir verblieb“ und spinnt daraus eine Karaoke-Nummer, die Juntunen und Romei zum Dahinschmelzen darbieten. Für Paul verschwimmen Mariettas und Maries Bild zunehmend miteinander. Er versinkt in eine albtraumhaft-kathartische Vision, die ihn schliesslich die Vergangenheit bewältigen lässt.
Der Bruch zwischen Wirklichkeit und Traumeinlage wird vor allem optisch im filmsetartigen Bühnenbild (Ralph Myers), das auf der Drehscheibe platziert ist, gekonnt umgesetzt. Zu Beginn des Stückes herrscht eine sterile Ordnung. Man blickt auf eine weisse, unscheinbare Hausfassade, Pauls Wohnung. Am Ende des ersten Bildes, als Pauls Traum einsetzt, zerfällt die Wohnung in ihre Bestandteile. Es sieht aus wie nach einer durchzechten Partynacht. Überall stehen Schnapsflaschen herum, Kleider liegen verstreut auf dem Boden. Die Unordnung bildet den Nährboden für Mariettas wilde Theatertruppe (Ye Eun Choi, Sofia Pavone und Karl-Heinz Brandt) mit dem Grafen Albert (Nathan Haller), deren Auftritt in einer Orgie endet.
Hervorzuheben sind auch Eve-Maud Hubeaux (mit voller, schön timbrierter Altstimme) als Pauls treue Haushälterin Brigitta und Sebastian Wartig in der Doppelrolle als Pauls Freund Frank und als Fritz. Wartig berührt mit seinem warmen Bariton insbesondere im berühmten „Mein Sehnen, mein Wähnen“.
Nicht zuletzt ist auch das Orchester bei der „toten Stadt“ aufs Höchste gefordert. Das Sinfonieorchester Basel bietet einen musikalischen Hochgenuss. Erik Nielsen, der mit dieser Produktion sein Amt als neuer Musikdirektor am Theater Basel antritt, bannt das Publikum mit seinem leidenschaftlichen Dirigat von der ersten bis zur letzten Note. Er verleiht der farbenreichen Partitur viel Kontur. Die süffigen Melodiebögen gelingen ihm ebenso wie die peitschenden, markanten Todesmotive. Während des ganzen Abends koordiniert er Bühne und Orchester mit einer bemerkenswerten Präzision. Das ist packendes Musiktheater vom Feinsten! Das Publikum bedankt sich mit rhythmischem Klatschen und tosendem Applaus.
Carmen Stocker