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BASEL/ Stadtcasino

01.12.2021 | Konzert/Liederabende

Basel: Stadtcasino Basel – Kammerorchester Basel (SOB) – «Gegen den Strom» – Ivo Pogorelich (Klavier) – Daniel Bard (Violine und Leitung) 30.11.2021

Die genialen jungen Wilden

Dieser Konzertabend mit dem Kammerorchester Basel unter dem polarisierenden Titel «Gegen den Strom» gehört eindeutig den jungen Wilden.

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Viele «junge (und junggebliebene) geniale Wilde»: Kammerorchester Basel (Foto: Lukasz Rajchert)

Zum Ersten: der junge Witold Lutoslawski, der mit seiner «Mala Suita – Kleine Suite für Kammerorchester» auf die Ablehnung seiner ersten Sinfonie reagierte. In dem Zehnminutenwerk klingen Volksliedmelodien unverändert und fröhlich an, werden aber vollkommen überraschend durch harte Rhythmen und düstere Orchesterklänge durchbrochen. Mit unglaublicher Präzision bringt das Kammerorchester unter Daniel Bard, welcher neben der Leitung auch als erster Violinist wirkt, dieses hochspannende Werk zur Aufführung. Die unterschiedlichen Stimmungen werden beeindruckend herausgearbeitet. So heben sich Fröhlichkeit, Melancholie und Bedrohung klar voneinander ab. Das Kammerorchester Basel ist in allerbester Spiellaune, wirkt einheitlich; alles «zieht an einem Strick». Bereits hier fallen die präzisen Holz- und Blechbläser auf.

Zum Zweiten: Ivo Pogorelich – eben derjenige Pianist, welcher 1980 als 22jähriger beim Chopin-Wettbewerb in Warschau die Jury derart spaltete, dass Martha Argerich voller Zorn mit dem Ausruf «Er ist ein Genie!» das Gremium verliess. Wenn jemand diesen jungen Pianisten beurteilen und verstehen konnte, dann wohl sie, bewegt sie sich doch selber beim Musizieren in überirdischen Sphären.

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Polarisiert heute noch auf höchstem Niveau: Ivo Pogorelich (Foto: Gabriel Hill)

Ivo Pogorelich polarisierte damals – und er polarisiert noch heute, nimmt er auch heuer Frédéric Chopins «Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 f-Moll op. 21» gnadenlos auseinander, deutet – und versteht! – es auf seine Weise – und streichelt es (und somit auch das Gehör des einen oder anderen Zuhörers) kräftig gegen das Fell. Das Kammerorchester Basel zieht dabei freudig mit. So erklingt der Orchestereinstieg überraschend hart, genau so, wie auch Pogorelich ins Konzert einsteigt. Sehr rasch nimmt er sich und das Orchester jedoch auch zurück und kostet die feinen, sensibel-leidenschaftlichen Passagen voll aus. Es entsteht ein faszinierendes Wechselspiel zwischen aufbrausender Kraft und verletzlicher Sensibilität. Der Pianist setzt klare, oftmals auch überraschende Akzente, hebt das, was besonders bedeutend klingen soll, hervor. Das Orchester wird dabei aus der ihm in diesem Konzert sonst eher zugedachten «Begleiterrolle» herausgeholt – und zwar eben genau dort, wo es etwas zu sagen hat. Was auf Pogorelichs wunderbarer Einspielung unter Abbado schon antönt, findet sich hier weiterentwickelt wieder. Besonders interessant ist hier auch, dass der Pianist den zweiten Satz nach sehr viel sensibler Emotion nicht verklärt ausklingen lässt, sondern einen klaren Schlusspunkt setzt. Nicht laut – aber deutlich.

Mit dem Kammerorchester Basel hat der Solist einen grossartigen Partner gefunden, welcher die eigenwillige Deutung des grossartigen Konzertes durch den grossartigen Pianisten mitträgt. Ivo Pogorelich wäre nicht er, wenn er mit seiner Sichtweise nicht auch hier polarisieren würde. So reicht der Schlussapplaus von dankbar überfordert über frenetisch gefeiert bis hin zu einem verhaltenen, einsamen «Buh» ein paar wenige Reihen hinter mir.

Das macht Ivo Pogorelichs Genialität eben aus: die ernsthafte, liebevolle Auseinandersetzung mit Chopins Klavierkonzert und die Entschlossenheit, seine Deutung, bei welcher es so viel Wunderbares zu entdecken gibt, nach aussen zu tragen. Das Hörerlebnis wird fordernd, anspruchsvoll und dadurch so grossartig und nachhaltig. Und das hat Martha Argerich bereits vor nun mittlerweile 41 Jahren beim Wettbewerb in Warschau verstanden, so wie es das Basler Publikum heuer im Stadtcasino tut. Und ich bin mir sicher: Meister Chopin hätte seine helle Freude daran!

Zum Dritten erklingt nach der Pause die «Suite für Streichorchester», welche Leos Janacek im Alter von 23 Jahren schrieb. Die Streicher des Kammerorchesters Basel liefern auch hier eine fein differenziert phrasierte Glanzleistung. Besonders berührend gelingt der Stimmungswechsel zwischen dem äusserst flotten «Presto» und dem ruhigen, meditativen «Adagio». Die Aufführenden musizieren mit allerhöchster Präzision – wie aus einem Guss.

Zum Vierten: der junge György Ligeti, welcher sich mit dem «Concert Românesc für Orchester» nach äusserst massentauglicher – vom damaligen System geforderten – musikalischen «Volksnähe» ebendiese verbiegt – und somit als politisch inkorrekt gelten musste. Das spannende, stimmungsvolle Stück bietet für jede Instrumentengruppe enorm viel. Diese musikalische Vielfalt wird vom Kammerorchester Basel genussvoll zelebriert – präzis, differenziert – auch hier bleiben keine Wünsche offen.

Das Publikum feiert diesen aussergewöhnlichen Konzertabend zu Recht mit langem, frenetischem Applaus.

Michael Hug

 

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