Geminiano Giacomelli: La Merope • La Cetra Barockorchester & Vokalensemble Basel • Martinskirche Basel • Vorstellung: 03.02.2022
NEUZEITLICHE ERSTAUFFÜHRUNG
Von Nachtigallen und Koloraturen
Was die deutschsprachige Gegenwart vom Musikjahr 1734 weiss, bezieht sich mehrheitlich auf die grossen Namen aus dem Norden: Bach, Händel, Telemann. Frankreich ist Terra incognita, aus Italien sind einige Uraufführungen überliefert, darunter die des Dramma per musica in drei Akten «La Merope» von Geminiano Giacomelli.
Am 25. Oktober wurde das Dramma per musica «Adriano in Siria» von Giovanni Battista Pergolesi anlässlich des Geburtstages der spanischen Königin am Teatro San Bartolomeo in Neapel uraufgeführt. Für jene Theater, die nicht mehr explizit monarchischer Repräsentation dienten und «öffentlich» zugänglich waren, so im «Vergnügungszentrum» Venedig, war die Karnevals-Stagione (vom 26. Dezember bis Samstag drei Wochen vor Ostern) die wichtigste des Jahres. Für die Karnevals-Stagione 1734 sind für Venedig zwei Uraufführungen überliefert: Das Dramma per musica in drei Akten «L’Olimpiade» von Antonio Vivaldi am 17. Februar im Teatro Sant’Angelo und Giacomellis «La Merope» am 20. Februar im Teatro San Giovanni Crisostomo.
Eine kurze Recherche im Netz und bei einschlägigen Streaming-Diensten fördert für «L’Olimpiade» mindestens sechs verfügbare Aufnahmen zutage. Für «La Merope» finden sich nur einzelne Arien auf Solo-Alben. Was sagt dieses Resultat aus? Es weist auf den Einfluss eines grossen Namens (Vivaldi) hin, denn von Metastasios Libretto «L’Olimpiade» gibt es über 70 Vertonungen und von Apostolo Zenos «La Merope» über 50 Vertonungen. Geminianis Vertonung muss aber auch von Bedeutung sein, denn mehrere ihrer Arien sind konstant auf Solo-Alben vertreten. Hier gibt der Besetzungszettel der Uraufführung die Antwort: mit Farinelli (Carlo Maria Michelangelo Nicola Broschi) und Caffarelli (Gaetano Majorano) standen zwei der berühmtesten Sänger ihrer Zeit auf der Bühne. Wegen ihrer Rivalität musste die Oper bald abgesetzt werden, und dürfte, so legt Basler Aufführung nahe, wegen der enormen Anforderungen an die Solisten in Vergessenheit geraten sein. Ganz in Vergessenheit geriet sie nicht, denn ihren Arien sind nicht erst seit der Erfindung von LP und CD und der Renaissance der Barock-Musik präsent: Epitides Arie «Sposa, non mi conosci» und Meropes Arie «Barbaro traditor» verwendete Vivaldi in seiner Oper Bajazet weiter. Epitides Arie «Quell’usignolo» soll Farinelli, für den sie ja geschrieben wurde, soll Farinelli mit nach Spanien genommen und 25 Jahre lang jeden Abend König Philipp V. vorgesungen haben. Zudem steht zu vermuten, dass die Arien auf Grund ihrer virtuosen Anforderungen als Kofferarien gedient haben.
Für die Aufführung am Teatro San Giovanni Crisostomo hatte dessen Impresario Domenico Lalli Zenos Libretto gleich selbst bearbeitet und Geminiani mit der Komposition beauftragt. Das Libretto bietet mit der Königswitwe Merope, ihrem Sohn Epitide, der sich am Tyrannenmörder Polifonte und dessen Vertrauten Anassandro rächen will, Epitides Geliebter Argia und den Ätoliern Licisco und Trasimede unerschöpfliche Möglichkeiten Affekte darzustellen. Geminiani hat die Möglichkeit genutzt, so dass in seiner Oper die Rezitative entsprechend kurzgehalten sind. Die Stars der Aufführung erhielten fünf Arien, die anderen Sänger je drei, so dass in drei Stunden Musik 25 grösstenteils hoch virtuose Da Capo-Arien erklingen.
Nachdem das La Cetra Barockorchester Basel unter musikalischer Leitung von Andrea Marcon 2018 Vivaldis «L’Olimpiade» aufgeführt hat, hat es nun mit der neuzeitlichen Erstaufführung Geminianis «La Merope» der Vergessenheit entrissen. La Cetra trägt die Solisten auf Händen durch den Abend und setzt Geminianis im Sinne von Belcanto zurückhaltende Musik gleichermassen sensibel wie leidenschaftlich um.
Für die neuzeitliche Erstaufführung war an diesem Abend ein Ensemble versammelt, das in dieser Konstellation gut vorstellbar auch die Uraufführung hätte bestreiten können. Magdalena Kožená als Merope verlieh der Königswitwe mit ihrem wunderbaren Mezzosopran eine Würde, die unmittelbar spürbar wurde. Vasilisa Berzhanskaya gab mit wunderbar abgedunkeltem Mezzo eindrücklich einen jugendlichen Trasimede, Anführer des Rats von Messenien. Kangmin Justin Kim sang mit dem Epitide die Rolle, die in der Uraufführung von Farinelli verkörpert wurde. Seine Arie über die Nachtigall («Quell’ usignolo»), in der er mit der ganzen Bandbreite der gesanglich möglichen Koloraturen und Verzierungen den Gesang einer Nachtigall nachahmen muss, wurden zu einsamen Höhepunkt eines so schon mehr als denkwürdigen Abends. Carlo Vistoli als Licisco, politischer Kämpfer um Argia (Epitides Geliebte) und gegen Polifonte, war der zweite Countertenor des Abends und kontrastierte mit seiner etwas dunkleren, weniger süssen Stimme bestens mit Kim. Juan Sancho statt dem erkrankten Emilano Gonzalez Toro sang den Polifonte. Seine Stimme ist deutlich gereift und hat nun auch Anklänge an Metall zu Verfügung. Beth Taylor gab die von Polifontes Leuten geraubte Geliebte Epitides Argia und Rachele Raggiotti mit herrlichen tiefen Polifontes Vertrauten Anassandro.
Üblicherweise neigt man bei Ankündigungen wie einer «stellaren Besetzung» zu Zweifeln. Hier sind diese absolut Fehl am Platz.
Ein denkwürdiger Abend, der ohne Weiteres mit der Uraufführung konkurrieren kann!
Weitere Aufführung: 05.02.2022, Concertgebouw Amsterdam – NTR Zaterdag-Matinee
04.02.2022, Jan Krobot/Zürich
Heute SA 05.02. live im niederländischen Radio: