BASEL: IDOMENEUS– Choreografisches Chortheater
Theater Basel – Kleine Bühne – Roland Schimmelpfennig „IDOMENEUS“ – Schweizer Erstaufführung 11.05.2017
Orgiastisches Gruppenwälzen. Foto: Sandra Then
Antik-griechische Stoffe begegnen uns – insbesondere unter der Intendanz von Andreas Beck – im Theater Basel immer wieder. In der vergangenen Spielzeit beschäftigte sich Darja Stocker mit der „Antigone“, Antonio Latella und Federico Bellini näherten sich dem „Ödipus“-Mythos und Roland Schimmelpfennig zeigte uns seine Lesart der „Bacchen“. Aktuell ist auf der grossen Bühne Iannis Xenakis „Oresteia“ in einer schonungslosen und eindrücklichen Inszenierung von Calixto Bieito zu sehen.
Daran anknüpfend arbeitet sich nun wiederum Roland Schimmelpfennig an einem antik-griechischen Mythos ab: Idomeneus. Wie Agamemnon kehrt auch der griechische König Idomeneus siegreich aus dem zehnjährigen trojanischen Krieg zurück. Kurz vor seiner Heimat Kreta gerät er mit seinem Gefolge in ein heftiges Unwetter. Alle Schiffe gehen unter, nur seine Flotte erreicht das Ufer. Seine Rettung verdankt er dem Handel mit einer göttlichen Stimme, der er – um sein eigenes Leben zu retten – verspricht, den ersten Menschen zu opfern, den er an Land sieht. Doch was tun, wenn es sich bei diesem ersten Lebewesen um den eigenen Sohn handelt?
In der Vergangenheit wurde der Idomeneus-Stoff bereits verschiedenen Bearbeitungen mit unterschiedlichem Ausgang unterzogen.Während Idomeneus bei Homer sicher nach Hause zurückkehrt, opfert dieser in der Überlieferung von Servius den Sohn und wird aus der Heimat verbannt. Mozarts Oper „Ideomeneo“ hingegen nimmt einen glücklichen Ausgang. In Schimmelpfennigs Lesart wird die Vielzahl an Varianten des Mythos zum erzählerischen Moment. In verschiedenen Szenen spielt ein Chor verschiedene Möglichkeiten des Mythos durch, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Mal endet die Geschichte tragisch, mal glücklich, dann wieder fantastisch. Schimmelpfennig spannt somit den Bogen vom Menschenbild der Antike zu einem heutigen Menschenbild. Das Schicksalhafte wurde überholt von der Vielzahl an Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen. Wir sind nicht mehr an die Schicksalshaftigkeit der Götter gebunden, sondern können frei handeln und entscheiden. Damit betont Schimmelpfennig, dass wir für unser eigenes Handeln und die daraus resultierenden Konsequenzen auch die volle Verantwortung übernehmen müssen und uns schuldig machen können. Was auf der Welt geschieht, ist allein das Werk des Menschen. Wir haben es in der Hand, die Welt zu einer anderen (besseren?) zu machen.
Der Belgrader Regisseur Miloš Lolić stellt sich inszenatorisch stark hinter den Text. Auf der sonst leeren Bühne von Evi Bauer steht allein eine grosse Scheibe, auf der verschiedene Emoticons projiziert werden, die als eine Art Kommentarebene fungieren. Dies animiert zunächst zum Schmunzeln, die Wirkung lässt allerdings nach dem wiederholten Male allmählich nach und ermüdet zusehends. Bemerkenswert sind die perfekt chorisch gesprochenen Passagen der Darstellenden (Barbara Horvath, Liliane Amuat, Thomas Reisinger, Cathrin Störmer, Urs Peter Halter, Elias Eilinghoff, Thiemo Strutzenberger, Lisa Stiegler, Katja Jung, Michael Wächter). Immer wieder treten einzelne Protagonisten aus der Chormasse heraus, die in wechselnder Besetzung in die verschiedenen Figuren hineinschlüpfen. Lolić gelingt eine herausragend abgestimmte Wortchoreografie. Der Mythos wird Schicht für Schicht abgetragen. So auch in der Kleidung: Die Darstellenden ziehen eine Kostümschicht nach der anderen aus, bis sie, nur mehr in Unterwäsche vor uns stehend, die Bühne verlassen. Davor müssen sie jedoch so Einiges über sich ergehen lassen: Sie stecken den Kopf in einen Eimer voll Schlamm (?), wälzen sich orgiastisch in einem undefinierbaren Glibber, legen sich über- und untereinander und verlieren beinahe den Boden unter den Füssen.
Das Resultat: eine grosse Bühnensauerei. Die Produktion wird vom Publikum mit viel Applaus gewürdigt.
Carmen Stocker