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Bariton Benjamin Hewat-Craw und der Pianist Yuhao Guo lassen sich auf Franz Schuberts Winterreise ein. Ein Interview dazu

„Man kann sich in der Emotion verlieren!“

27.10.2020 | INTERVIEWS

„Man kann sich in der Emotion verlieren!“

Winterreise, Op. 89, D. 911: No. 4, Erstarrung - YouTube

Der Bariton Benjamin Hewat-Craw und der Pianist Yuhao Guo lassen sich auf Franz Schuberts Winterreise ein. Im exklusiven Ambiente des westfälischen Klosters Gravenhorst (heute ein Haus für die Kunst) haben sie das Werk auf CD aufgenommen.  Ein Konzert mit diesem Programm an diesem Ort war Ehrensache – und dort gaben sie auch ausführliches Interview. Am 6. November folgt ein weiteres Konzert im Berliner Pianosalon Christophori.

Von Stefan Pieper

Sie haben ein charmantes Promo-Video gedreht. Es wirkt wie diese „unboxing-Videos“, wo Privatleute irgendwelche neu erworbenen meist technischen Konsumgüter präsentieren. Aber bei Ihnen kommt nicht etwa ein neues Iphone zum Vorschein, sondern Ihre Debut-CD. Was hat Ihre neue Einspielung mit Schuberts Winterreise einem neuen Smartphone voraus?

Benjamin Hewat-Craw: Jeder, der sich auf die Winterreise einlässt, wird erleben: Sie gibt den Menschen das, was sie wirklich brauchen. Diese Musik und diese Dichtkunst können etwas vermitteln, was wirklich wichtig ist. Und das wollen wir ganz direkt zu den Menschen bringen.

Yuhao Guo: Wir möchten junge Leute ansprechen in unserem Alter, die Facebook und Instragram nutzen. Es ist so wichtig, den Reichtum der klassischen Musik an die nächsten Generationen zu vermitteln. Auch deswegen haben wir uns für ein etwas schrilles Cover-Design entschieden. Die Optik macht erst mal neugierig – aber dann folgt die echte Überraschung: Hinter der hippen Verpackung steht absolut seriöse Kunst, die höchsten Ansprüchen gerecht wird, die emotional und intensiv ist.

Benjamin Hewat-Craw: Das gesamte Paket muss stimmen. Viele Leute kaufen nach Aussehen – um dann etwas schönes darin zu entdecken! Wir denken, wir können etwas Neues Interessantes dazu beitragen.

 

Haben Sie so etwas wie Spaß bei einer Winterreise-Aufführung?

Benjamin Hewat-Craw: Ich weiß nicht, ob man diese intensive Konzentration und Versenkung Spaß nennen kann. Aber im Nachhinein auf jeden Fall!

 

Was fasziniert Sie an diesem Werk?

Yuhao Guo: Es ist geniale Musik auf Grundlage ebensolcher Texte. Die Musik weckt die Texte zum Leben.

Benjamin Hewat-Craw: Man steckt unweigerlich sehr stark drin.

 

Yuhao, Ihr Klavierspiel wirkt besonders „aktiv“, so dass man wohl kaum noch von Begleitung sprechen kann. Haben Sie die Worte im Kopf beim Spielen?

Yuhao Guo: Auf jeden Fall. Ich muss mich aber auch sehr gut in das hineinversetzen, was mein Sänger-Partner macht. Ich bin ein sehr intuitiver Pianist, das hat mir vor allem das Studium bei Nina Tichman und Ulrich Eisenlohr vermittelt. Es geht dabei auch darum, künstlerisch über der Sache zu stehen.

 

Wie verhält es sich dabei überhaupt mit dem Verhältnis zwischen Innen- und Außenwelt?

Yuhao Guo: Man ist oft in dieser ganzen Emotion tief drin und kann sich hier schnell verlieren. Manchmal braucht es dafür eine gewisse Distanz und Analytik.

 

Haben Sie vorm Musizieren dieser Komposition auch mal die Texte einfach nur gelesen? Wie hat sich überhaupt diese Komposition erschlossen?

Yuhao Guo: Wir haben uns inhaltlich viel damit auseinander gesetzt, viel über die Bilder gesprochen, ebenso über viele Doppeldeutigkeiten in den Formulierungen und uns den politischen Aspekt bewusst gemacht. Wilhelm Müller war ja durchaus rebellisch gegenüber der damaligen Obrigkeit. Schade, dass er so früh verstarb und selbst die Lieder gar nicht mehr gehört hat.

Benjamin Hewat-Craw: Die zeitgenössische Wahrnehmung der Winterreise war bekanntlich etwas distanziert – weit vom heutigen Weltruhm dieses Werkes entfernt. Schuberts nähere Freunde, die sein Publikum darstellten, kamen kaum damit zurecht, wie Schubert über Müllers Texte komponiert hat. Vermutlich hätte Wilhelm Müller Schuberts Komposition zu „modern“ gefunden.

 

Wie sehen Sie den Widerstreit zwischen Todessehnsucht und Lebenswille in der Winterreise? Zwischen Klammern und Loslösen?

Benjamin Hewat-Craw: Der ist total vorhanden. Schubert romantisiert den Tod. Solche Inhalte setzen sich in Wagners Opern fort, so etwas lag im romantischen Zeitgeist. Die Figur in der Winterreise ist mit dem Wagnis konfrontiert, alles zu lösen. Zugleich endet alles. Es ist ein Kampf zwischen Aufgeben und Weitergehen. Eine solche Frage stellt sich gewissermaßen für jeden Menschen – aber für diesen Wanderer natürlich extrem.

 

Habt ihr Verbindungen zur eigenen Lebenswirklichkeit?

Yuhao Guo: Klar. Die Winterreise transportiert sehr universale Gefühle und durchbricht damit jede Distanzebene. Jeder hat wohl schon mal Liebeskummer empfunden oder sich einsam gefühlt.

Benjamin Hewat-Craw: Es kann wahnsinnig starke Erinnerungen wecken. Deswegen bin ich nach einer Aufführung immer etwas fertig und es ist manchmal nicht leicht, danach wieder zur Normalität zurück zu kehren.

 

So wie in einem Theaterspiel nach einer anspruchsvollen Hauptrolle?

Benjamin Hewat-Craw: Ähnlich, ich habe dies schon mal in Benjamin Brittens The Rape of Lucretia erlebt. Ich spielte den General, der sehr machtbesessen ist und habe bemerkt, dass ich noch in dieser mentalen Rolle drin bin -das hatte einen starken Einfluss. Das muss man in Kauf nehmen.

 

 

In Kauf nehmen? Ist so ein Erlebnis nicht eine Bereicherung?

Benjamin Hewat-Craw: Klar, ist es das. Was man in der Realität lebt, wird durch eine solche Aufführung breiter. Die Frage ist, ob man manchmal zu weit aus seinem natürlichen Zentrum gezogen wird.

 

Zieht Schuberts Winterreise aus dem eigenen emotionalen Zentrum heraus?

Yuhao Guo: Es kommt drauf an, wie resilient man ist. Heute bin ich in einer sehr gefestigten Situation mit einer glücklichen Partnerschaft. Vor circa sieben Jahren ging es drunter und drüber in meinem Leben, da hätte mich so ein Konzert viel mehr aus der Bahn geworfen.

Benjamin Hewat-Craw: Für mich war die Situation noch recht heftig, als wir die CD aufgenommen haben. Ein paar Monate zuvor hatte ich gerade eine Trennung erlebt. Die Aufführung war fast wie eine emotionale Spiegelung dieses Geschehens.

 

Ist eine Winterreise nicht auch ein positiver künstlerischer Katalysator, der hilft, so etwas zu verarbeiten?

Benjamin Hewat-Craw: Ja, es hat mir geholfen. Es kann allem einen Sinn gegen. Letztlich entsteht aus dem Leiden große Kunst.

Yuhao Guo: Aber es bleibt eine Gratwanderung.

 

Können Sie bestimmte Momente in der Winterreise benennen, wo es Sie gepackt hat?

Yuhao Guo: Als ich das allererste Mal „Gute Nacht“ hörte, diese Stelle, wo es von Moll nach Dur geht, da hat Schubert mich auf Anhieb gekriegt. Wenn ich es heute abend spiele, bin ich mir sicher, dass es mich wieder genauso packt. Oder im Stück vom „Wegweiser“, wo Schubert über den Akkord moduliert. Da kriege ich den Mund nicht mehr zu. Diese unglaubliche Intimität von „Wasserflut“ – man kann es kaum an einzelnen Punkten festmachen.

Benjamin Hewat-Craw: Ich habe die Winterreise zum erste Mal mit 17 gehört. Vor allem waren es die ersten vier Töne im ersten Lied und diese Wander-Bewegung, diese Mechanik. Das hat mich total überwältigt. Das Wandern liebe ich ja sowieso seit meiner Kindheit. Ich komme vom Land in Dorset – das war meine Welt.

 

Benjamin, was macht Yuhaos Klavierspiel mit Ihnen?

Benjamin Hewat-Craw: Das Klavierspiel macht meine Bilder im Kopf schärfer.

 

Haben Sie ein Erfolgsrezept für eine gelungene Interpretation?

Yuhao Guo: Man darf ein Stück nicht tot proben.

 

 

Auf was für kommende Projekte dürfen wir uns freuen?

Benjamin Hewat-Craw: Wir haben mit ARS schon zwei weitere Produktionen vereinbart. Der nächste Titel ist „Never such innocence again“ – das thematisiert die verlorene Unschuld der Moderne. Die Idee kommt aus einer Dichtung von Philip Larkin, die MCMXIV (1914) heisst. Es geht unter anderem um Soldaten und die verlorene Unschuld der britischen und europäischen Gesellschaft. Es ist uns ein Anliegen, diese englischen Lieder endlich in Deutschland zu zeigen. Sie sind nicht so berühmt, aber wahnsinnig schön. Für mich ist die Epoche ihrer Entstehung eine sehr spannende Zeit und diese drei ungewöhnlichen Lieder sind aufregende Poesie.

 

Also folgt auf eines der berühmtesten Werke der abendländischen Musikgeschichte eine eher unbekannte Repertoire-Entdeckung. Was ist für Sie der gemeinsame Nenner?

Yuhao Guo: Die Musik ist einfach sehr liebevoll komponiert. Und es gibt eine Aktualität, die über den historischen Kontext erhaben ist. Eine Gefühlshaltung, die zeitlos ist. Letztlich ist uns egal, wie berühmt ein Stück ist. Es zählt, was uns persönlich anspricht. Es kann Aktualität in unserem Leben sein oder Aktualität in der Gesellschaft. Es muss beim ersten Lesen und Durchspielen in uns vibrieren. Wir müssen sofort sagen können: Das ist unser Stück!

 CD:

Franz Schubert

Winterreise

Benjamin Hewat-Craw: Baritone

Yuhao Guo: Piano

 ARS Produktion 2020

 

 

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