BAMBERG: DER SANDMANN nach E.T.A. HOFFMANN von HANNES WEILER
23.3. 2022 (Werner Häußner)
Nathanael fällt und fällt und fällt. Wohin, bleibt ungeklärt. Wird er in der wonnigen Vereinigung mit seiner angebeteten Olimpia versinken? Stürzt er wie in einem kindlichen Alptraum ins Bodenlose? Wird er weich aufgefangen wie im Traum, oder schlägt er hart und schmerzhaft auf? Wir werden es nicht erfahren. Der finale Fall des Protagonisten von Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns „Der Sandmann“ bleibt uneindeutig – so uneindeutig wie vieles in dieser berühmten Geschichte der „schwarzen Romantik“, die Hannes Weiler für das E.T.A. Hoffmann Theater in Bamberg als Steinbruch für Motive seiner eigenen Textkaskaden verwendet hat.
„Nach Hoffmann“ bedeutet, dass nur Rudimente aus der Erzählung vorkommen. Der überwiegende Teil des Gesprochenen stammt von Regisseur Weiler – aber die hoffmannesken Motive sind allenthalben eingewoben, durchziehen die neunzig Minuten im Studio des Theaters wie feine Spinnfäden. So ist es nicht nur Ironie oder Zitat eines gängigen Gruselmotivs, wenn Florian Dietrich im Vordergrund seiner gestaffelten Bühne ein riesiges Spinnennetz aus Ketten aufspannt. Auch die Echsenkralle, die eher unmotiviert und funktionslos im Zentrum des Raumes steht, kann als Zeichen der Bedrohung gelesen werden.
Hannes Weiler, dessen Spezialität performativ weiterentwickelte klassische Texte sind, hat sich die Perspektive-Differenzen Hoffmanns zu Eigen gemacht. Nathanaels Begriff der Geschehnisse ist ein fundamental anderer als der seiner Umgebung. Bei Hoffmann ist es seine Braut Clara, die versucht, mit rationaler Argumentation die Fixierungen Nathanaels aufzubrechen. Aber das Gespenstische, Geheimnisvolle bleibt. Der Leser wird den Verdacht nicht los, dass hinter den Beobachtungen und Schlussfolgerungen aus der traumatisch wirkenden Kinderschreck-Geschichte vom Sandmann, der die blutig aus dem Kopf gesprungenen Augen unartiger Menschenkindlein einsammelt und seiner schnabelbewehrten Brut zur Atzung vorsetzt, irgendetwas bedrohlich Unfassbares stecken könnte, das über die seelische Traumatisierung hinausgeht.
In Hoffmanns Erzählung sind die Unterschiede der Wahrnehmung klar zugeordnet. Bei Weiler verschwimmen sie: Wir haben alle etwas von der klarsichtigen Clara und dem vielleicht psychotischen, vielleicht tiefer blickenden Nathanael in uns. So sind die vier Schauspielenden nicht m, nicht w und nicht d, doch vielleicht von allem etwas. Sie spielen Rollen aus der Geschichte abwechselnd und nicht immer eindeutig. Wer ist wer?, das wandelt sich, changiert ineinander. Nur Olimpia, die von Nathanael als seelenvolles Geschöpf imaginierte „Automate“ ist das gigantische Gegenüber der Gesellschaft. Dietrich gestaltet es als bühnenfüllende gemalte Kulisse, die den Raum teilt, eine Kreuzung aus Felswand und monströser Maske wie die Fresse eines Predators, mit Höhlen wie Augen, in denen Augäpfeln ähnliche Kugeln schweben. Daraus tönt anfangs ein Hoffmann-Zitat über den Sandmann; später stoßen dieselben verfremdeten Stimmen Olimpias „Ach“ hervor. Die Puppe, die mit einem wie halbverwest zerklüfteten Kopf in einem Frauenkleid des frühen 19. Jahrhunderts in das Spinngewebe klatscht, sorgt für einen ironischen Schockeffekt – aber später „brauchen wir sie nicht mehr“, denn das Unheimliche ist allgegenwärtig.
Die Introduktion ist denkwürdig und sofort ein virtuoser Bühnen-Höhepunkt, wenn die vier Darsteller, Daniel Dietrich, Stefan Herrmann, Clara Kroneck und Eric Wehlan auf der Suche nach einer Kohle sind (Nathanael zeichnet Wahngebilde mit Kohle) und sich in den sprachlichen Verwicklungen direkt und indirekt zitierter Rede verheddern, bis niemand mehr genau weiß, worum es eigentlich geht. Ein gelungenes Sprachkonstrukt, das Hoffmanns Technik der Verunklarung durch Verschiebung der Bedeutungen und des Kontextes virtuos aufgreift. Mit ähnlichen Mustern erzeugt Weiler immer wieder schmerzhafte Passagen des Missverstehens, der widersprüchlichen Wahrnehmung, der unüberbrückbaren Unterschiede der Begriffe. Das führt zu manchem Wortbrechdurchfall, der die Geduld hinwegschwemmt, aber auch zu Momenten ironischer Verspieltheit, wenn etwa „Clara“ und „Klaro“ ein groteskes Nichtverstehens-Wechselspiel entfachen.
Was das Ganze soll, will Weiler wohl nicht beantworten; die Produktion hat einen Touch lustvoll selbstgenügsamen Theaterspiels. Wer die Stimme Hoffmanns hören und seine Geschichte erzählt bekommen will, ist fehl am Platz. Aber wer Lust dazu hat, sich auf das assoziative, spielerische, manchmal sogar hintersinnige Ausspinnen Hoffmann’scher Gedankenfäden einzulassen, mag den Abend mit Gewinn besuchen.
Werner Häußner