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BADEN / Stadttheater: NEUN – Österreichische Erstaufführung des Musicals von Maury Yeston

23.10.2022 | Operette/Musical
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Wer so von Damen heimgesucht wird, dem hilft nur noch die Flucht. Alle Fotos: Bühne Baden / Lalo Jodlbauer

BADEN / Stadttheater: Premiere des Musicals NEUN nach Fellinis Film 8 ½

22. Oktober 2022

Von Manfred A. Schmid

Das mit fünf Tony-Awards ausgezeichnete Musical Neun (Nine) von Arthur Kopit (Buch) und Maury Yeston (Musik und Liedtexte) basiert auf Federico Fellinis semi-autobiographischem Film 8 ½. Die Bühne Baden ist zu Recht stolz darauf, die österreichische Erstaufführung, genau vierzig Jahre nach der Uraufführung 1982 am Broadway, präsentieren zu können. Eigentlich sollte sie schon früher stattfinden, was wegen Corona aber nicht möglich war. Im Vorjahr wurde – als Appetizer – in der Badener Sommerarena eine Serie von konzertanten Aufführungen dargeboten, moderiert von Ramesh Nair, der nunmehr als Regisseur verantwortlich zeichnet.

Zum Inhalt: Der erfolgreiche Filmregisseur und Frauenfreund Guido Contini befindet sich, nachdem seine letzten drei Film Flops waren, in einer schöpferischen Schaffenskrise. Da zudem auch seine Ehe zu scheitern droht, ergreift er die Flucht. Mit seiner Frau Luisa reist er in ein Kurhotel in Venedig, um sich künstlerische Inspiration für den nächsten Film zu holen und gleichzeitig seine Ehe zu retten. Midlife Crisis zum Quadrat.

Eben erst in Venedig angekommen, wird er von Paparazzis aufgespürt. Den Reportern lügt er vor, dass er hier sei, um sofort mit den Dreharbeiten zu beginnen, obwohl er tatsächlich noch immer keine Ahnung hat, wie der Film aussehen könnte. Nach langen Wirren mit der Produzentin und Zores mit seiner Frau und den Frauen im allgemeinen entschließt sich Contini schließlich dazu, seine eigenen Lebenserfahrungen und Beziehungsgeschichten zum Thema eines von Casanova inspirierten Streifens zu machen. Und, um keine Zeit zu verlieren, engagiert er gleich das Personal des Kurhotels als seine Schauspieltruppe. Von seiner Frau, der Geliebten und seiner Lieblingsschauspielerin verlassen, denkt er an sogar Selbstmord. Ein traumhafter Auftritt seiner Mutter und die Begegnung mit seinem eigenen Ich als Knabe von neun Jahren geben ihm aber wieder Mut. Er wird den Film wohl drehen.

Die Bühne von Karl Fehringer und Friederike Friedrich spiegelt, als der Vorhang aufgeht, den Zustand in Continis Kopf wider: Sie ist in Dunkelgrau gehalten und – bis auf ein Bett, das derzeit seinen einzigen Lebensinhalt darstellt – öd und leer. Er hat, was den von ihm verlangten Film betrifft, nämlich weiter nicht den blassesten Schimmer. Und keine Ruhe zum Nachdenken: Die Frauenwelt ist hinter ihm her. Seine Geliebte Carla, die naiv davon träumt, dass er sie heiraten werde, verfolgt ihn, während seine ebenfalls eingetroffene Muse und Lieblingsschauspielerin Claudia ihren Abgang ankündigt. Sie ist es satt, stets die gleichen Rollen spielen zu müssen. Und dazu gesellen sich noch jede Menge weiterer Frauen, die sich ihm aufdrängen – von der Hotelleiterin bis zum Zimmermädchen, sogar eine Nonne stellt ihm lüstern nach.

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Drew Sarich (Guido Contini) und Anna Mandrella (Claudia Nardi).

Es kommt zu ständigen Überblendungen von Fantasie und Realität, von Gegenwart und Vergangenheit. Die Bühne beginnt sich allmählich zu verwandeln, wenn Contini sich an seine Kindheit erinnert (der junge Guido, exzellent gespielt von Joel Gradinger) und an seine Mutter denkt (liebevoll und stets besorgt Andrea Huber). Wenn ihm seine nicht gerade erfreulichen Erlebnisse mit der katholischen Kirche in den Sinn kommen, wird die Bühne zum sakralen, von einem hell leuchtenden Kreuz dominierten, bedrohlich wirkenden Raum. Denkt er seine erste Erfahrung mit einer – in jedem Fellini-Film vorkommenden – üppigen Frau mit ausladendem Busen, fällt ihm sofort die Pflicht zur Reue ein (Chorlied „Kyrie eleison“) sowie die Belehrung durch den gestrengen Herrn Pfarrer: Es gäbe, ihmzufolge, nur zwei Arten von Frauen: Huren oder Mütter. Als die Produzentin eintrifft und von ihm das Drehbuch verlangt, erwägt, er entweder einen Western, ein Bibelepos oder einen Dokumentarfilm über Tiere zu drehen. Prompt reiten Cowboys und Indianer mit Geheul, gefolgt von einer Prozession mit dem leidenden Christus und ein paar Affen über die Bühne. Als ihn die Produzentin Liliane daran erinnert, dass eigentlich ein Musical ausgemacht sei, wählt er als Drehort – naheliegend – Venedig, und ein Flecken Venedig – mit Palast und einer Gondel samt Gondoliere – wird auf die Bühne gezaubert.

Natürlich stimmt es, dass Continis Hirn meistens leer oder voll von Frauen – und dann eher nur in der Hose – vorzufinden ist. So zwanghaft hätte man aber dennoch bei der Ausstattung nicht vorgehen müssen. Zu oft wird die Bühne wieder zum trostlos wirkenden, eintönigen Raum. Hier hätte der Einsatz von etwas mehr Bühnentechnik und abwechslungsreicheren Kulissen nicht geschadet. Gut gelungen sind dafür die Kostüme von Friederike Friedrich.

Die Regiearbeit von Ramesh Nair konzentriert sich vor allem auf Personenführung, die auch von der Lichttechnik (wer dafür verantwortlich ist, bleibt im Programmheft ungenannt) effektvoll unterstützt wird. Nicht zu vergessen auch seine choreographische Begabung, die er im Tanz der Follie-Bergerer schwungvoll umsetzen kann. Dass in diesem in Venedig spielenden Musical  erneut ein in zahllosen Operetten, Revues und Musicals längst abgedroschener Can-Can zum Zug kommt und nicht z.B. eine italienische Tarantella, ist nur ein weiterer Beweis für die nicht gerade originelle Kompositionsweise von Maury Yeston. Das ist zweckmäßige, funktionstüchtige Musik ohne jeden Wiedererkennungseffekt. Kein einziger Song, der sich eingeprägt. Dass Yeston es auch anders kann, hat er in seinem Musical Titanic, unlängst in Linz erstaufgeführt, bewiesen.

Insgesamt steht Nair ein gediegener Cast zur Verfügung. Alles steht und fällt selbstverständlich mit der Besetzung der einzigen männlichen Hauptrolle, der acht sehr verschieden ausgeprägte Frauenrollen gegenüberstehen. Der gebürtige Amerikaner Drew Sarich ist ein erfahrener Star der österreichischen und mitteleuropäischen Musicalszene und macht seine Sache routiniert gut. Den südländischen Charme des Frauenlieblings lässt er allerdings vermissen, auch die Genialität des Regisseurs will man ihm nicht so recht abnehmen. Gut aber seine kontrollierte Gereiztheit angesichts des von ihm angerichteten Dauer-Chaos seines Liebeslebens und die wachsende Verzweiflung angesichts seines sich abzeichnenden Scheiterns.

MiIica Jovanovic als Luisa Contini ist eine Frau, die ihrem Mann und seiner Karriere zuliebe auf ihre Berufung zur Schauspielerin verzichtet hat und ihm – trotz all seiner Seitensprünge – allzu lange zur Seite gestanden ist und ihm den Rücken freigehalten hat. Bis zu dem Zeitpunkt, wenn es einfach nicht mehr geht. Die Schlussszene, als sie mit gepacktem Koffer abreisefertig vorne an der Bühnerampe steht, gehört zu den berührendsten des Abends: Ein letzter tiefer Seufzer und ein leichtes Anheben und Senken der Schultern. Alles Weitere bleibt offen.

Als Carla Albanese, Continis Geliebte, lässt Dorina Caruci alle Verführungskünste vom Stapel und scheut auch nicht davor, ihn mit Selbs tmorddrohungen zur Scheidung und anschließender Heirat zu drängen: Ein etwas naives, aber auch raffiniertes Blondinchen. Anna Mandrella ist als  langjährige Lieblingsschauspielerin Claudia Nardi die Muse des Regisseurs. Eine elegante, selbstbewusste Frau, die in dieser Rolle aber durchaus etwas mehr Divenhaftigkeit ausspielen könnte.

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Jacqueline Brown (Saraghina) erteilt Aufklärungsunterricht.

Einen starken Áuftritt hat Patricia Nessy als Produzentin des Films und eine der vielen verflossenen Liebschaften des umschwärmten Regisseurs. Im längsten und aufwändigste Song des Musicals lässt sie ihre glanzvolle Tätigkeit als Leiterin der Pariser Follie-Bergeres Revue passieren. An ihrer Seite die gestrenge Co-Produzentin und Filmkritikerin Stephanie Necrophorus, glänzend dargestellt von der umwerfend komischen Wietske van Tongeren, mit einer Frisur, die sie als Mitglied der Adams-Family ohneweiters durchgehen ließ.

Anna Overbeck ist die Chefin der Zimmermädchen, die ihr Interesse an einer Beziehung mit dem angebeteten Guido Contini kaum verbergen kann. Jacqueline Braun ist die dralle, vollbusige Hure Sarraghina, die dem Schulbuben Guido und seinen Klassenkameraden praktischen Aufklärungsunterricht erteilt.

Das Publikum zeigt sich begeistert und dankt stehend mit viele Applaus, zustimmendem Gezische und Bravorufen. Es hat sich bei Musicals offenbar eingebürgert, dass bei Premieren grundsätzlich Standing Ovations angesagt sind. Will man dann auch den Dirigenten – Christoph Huber, der am Pult des Orchesters und des Chors der Bühne Baden, dessen Mitglieder auch als Solostimmen und schaupielerisch stark eingebunden sind,  ganze Arbeit leistet – und das Leading Team sehen, muss man sich  dann eben selbst gezwungenermaßen auch erheben. Es war ja auch, summa summarum,  eine gute Aufführung.  Sternstunde war es keine. Dazu hätte die flaue musikalische und dramaturgische Vorlage einen Wunderwuzzi gebraucht. Und den gab es in der Aufführungsgeschichte dieses Musicals bisher – außer offenbar bei der Uraufführung am Broadway – noch nirgendwo sonst.

Manfred A. Schmid

 

 

 

 

 

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