Ideale Besetzung in Baden: Georgij Makazaria als Tevje, Aliosha Biz als Fiddler on the Roof. Foto: Stadttheater Baden/ Christian Husar
Baden Stadtheater 24.10.2020: „ANATEVKA“ – Musical von Jerry Bock/ Joseph Stein
Das Spielzeit-Motto der Bühne Baden lautet „Arm und Reich“ – und findet in der Premiere von „Anatevka“ seine aktuelle Entsprechung. Das Libretto des bekannten Musicals (Buch: Joseph Stein, Musik: Jerry Bock, Gesangstexte: Sheldon Harnick) basiert auf den Erzählungen „Tewje, der Milchmann“ von Scholem Alejchem aus 1916; das Musical wurde 1964 in New York uraufgeführt – in der Regie und Choreografie von Jerome Robbins. In Österreich war das Stück schon oftmals zu sehen – man erinnert sich vielleicht an die erste Produktion am Theater an der Wien mit Yossi Yadin und Lya Dulizkaya sowie in einer späteren Version mit Karl Merkatz; auch an der Volksoper in Wien war das Musical im Spielplan (mit Gerhard Ernst und Dagmar Hellberg) oder bei den Seefestspielen in Mörbisch, wo 2014 Gerhard Ernst und Dagmar Schellenberger das Ensemble anführten. Zuletzt fand vor einer Woche in Graz die Premiere statt mit Ivan Orescanin und Susan Rigvava-Dumas in den Hauptrollen.
Der Inhalt darf als bekannt vorausgesetzt werden – Milchmann Tevje lebt mit seiner Frau Golde und den fünf Töchtern im kleinen Schtetl Anatevka, geprägt von Armut, Genügsamkeit und Gottvertrauen ganz im Sinne der jüdischen Tradition. Die gerät allerdings ins Wanken, als die Töchter plötzlich aus Liebe heiraten wollen anstatt sich von der Heiratsvermittlerin verkuppeln zu lassen. Und es gerät die Weltordnung durcheinander, als es zu ersten von der russischen Obrigkeit angeordneten Zwischenfällen kommt. Zuletzt muss die jüdische Bevölkerung auf Anordnung Anatevka verlassen und auch Tevje und die Seinen packen ihre Habseligkeiten und machen sich auf den Weg – die Hoffnung auf eine bessere Zukunft bleibt ihnen.
Im Stadttheater Baden haben nun Volker Wahl und Michaela Ronzoni mit sensiblem Gespür ihre solide Inszenierung dieses zeitlosen und immer aktuellen Musicals umgesetzt. Mit einer sehr cleveren Ausstattung von Stefanie Stuhldreier, die die fehlende Drehbühne durch ein in der Bühnenmitte befindliches und manuell zu drehendes Bühnenelement ersetzt. So kann direkt vom Innenraum zur Straßenszene und zurück gewechselt werden. Die Kostüme sind schlicht und passend zum Lokalkolorit. Ganz dem Originaltitel entsprechend, ist der Fiddler on the Roof, der Geiger, der im jüdischen Leben alle wichtigen Feiern wie Geburt oder Hochzeit begleitet, eine wesentliche und handlungsbegleitende wie -verbindende Figur. Wohl dem Motiv des grünen Geigers in Marc Chagalls Bildern nachempfunden trägt der Geiger hier eine grüne Perücke. Als Zugeständnis an die Covid 19-Bestimmugnen finden die Aufführungen in dieser Produktion zwar ohne Ballett statt – der Flaschentanz durfte dennoch nicht fehlen und das Ensemble tanzt dennoch in einer sparsam eingesetzten Choreografie von Natalie Holtom.
Da war die Welt noch in Ordnung: Shlomit Butbul (Jente) preist Maya Hakvoort (Golde) einen Heiratskandidaten an. Foto: Stadttheater Baden/ Christian Husar
Sind zu Beginn vielleicht wegen der Premierennervosität bei manchen einige kleine Textunsicherheiten gegeben, so komprimiert sich das Bühnengeschehen zusehends zu packender Dichtheit und finden sich berührende innige Momente. Georgij Makazaria verkörpert überzeugend den gutmütigen Milchmann Tevje, der Zwiesprache mit Gott hält und an den Tradition festhält. Er liebt seine Töchter und kann sich sogar damit abfinden, dass sich seine beiden älteren Töchter über alle Konventionen hinwegsetzen und ihre Männer aus Liebe wählen. Nur den Traditionsbruch der mittleren Tochter, die einen Russen wählt, kann er nicht akzeptieren – sein Weltbild wankt, die drohenden Veränderungen der Zeit haben nicht nur sein Schtetl sondern auch seine Familie getroffen. Wenn er sinniert „Wenn ich einmal reich wär´…“ oder insistierend bei seinem Weib nachfragt „Ist es Liebe?“ berührt er zutiefst. Maya Hakvoort ist seine herbe, aber herzensgute Frau Golde, die an Träume glaubt und für ihre Töchter nur das Beste will. Anna Burger (Zeitel) und Alexander Donesch (Schneider Mottel), Marianna Lisa Herzig (Hodel) und Stefan Bleiberschnig (Perchik) sowie Valerie Luksch (Chava) und Jan Walter (Fedja) haben gute Singstimmen und agieren darstellerisch sehr überzeugend. Shlomit Butbul als resolute Heiratsvermittlerin Jente, Tania Golden als Traumerscheinung der toten Großmutter Zeitel, Josef Forstner als Fleischer Lazar Wolf sowie Franz Josef Koepp als Rabbi und Dominik Kaschke als Wachtmeister komplettieren das Ensemble. Als Fiddler on the Roof ist Geigenvirtuose Aliosha Biz optimal bühnenbeherrschend im Einsatz.
Ein Augenblick der Stille am Ende des Stücks lässt das Publikum innehalten, bevor der Applaus einsetzt: Viel Beifall für alle Darstellerinnen und Darsteller, den Chor und das Orchester unter der umsichtigen Leitung von Franz Josef Breznik.
Ira Werbowsky