Wagners „Walküre“ bei den Sommerfestspielen im Festspielhaus Baden-Baden
MIT EINEM GROSSEN BOGEN
Premiere von Richard Wagners „Walküre“ mit dem Mariinsky Orchester konzertant am 7. Juli 2016 im Festspielhaus/BADEN-BADEN
Stuart Skelton, Eva-Maria Westbroek, Valery Gergiev. Foto: Andrea Kremper
Kurzfristig sprang Stuart Skelton als Siegmund für den erkrankten Jonas Kaufmann ein und rettete damit in letzter Minute die Premiere der vom russischen Mariinsky Theater konzertant dargebotenen „Walküre“ von Richard Wagner. Valery Gergiev betonte als Dirigent des glänzend disponierten Mariinsky Orchesters vor allem die sinfonischen Dimensionen von Wagners Partitur, die sich insbesondere gegen Ende bei dieser Wiedergabe imposant auffächerte. Eine „Wunderharfe“. Dadurch kam die ungeheuer vielschichtige Harmonik beim „Feuerzauber“ strahlkräftig zum Vorschein.
Der große dramatische Bogen ging nie verloren, im zweiten Akt kam es bei der Begegnung zwischen Siegmund und seinem Widersacher Hunding zu einer „gefährlichen“ dynamischen Zuspitzung der Blechbläser, die trotz kleiner Intonationstrübungen weitgehend gefielen. Überhaupt klangen hier viele Sequenzen durchaus russisch und sehr romantisch, was nicht von Nachteil war. Gergiev liebt das Rubato – und er hat eine ganz eigene Sichtweise auf das Werk Wagners. Mächtig erschütterte der Gewittersturm im ersten Akt die gezimmerte Hütte des wilden Hunding. Man meinte sogar, das gewaltige Rauschen des Eschenstamms zu vernehmen. Stuart Skelton brachte die totale Erschöpfung Siegmunds überzeugend zum Vorschein. Seine leuchtende Tenorstimme steigerte sich im Laufe des Abends unaufhörlich, gewann immer mehr an Statur – vor allem bei den „Wälse“-Rufen. Auch die Umwandlung des Sturmmotivs zum Mühsalsmotiv gelang Gergiev mit dem stets konzentriert agierenden Mariinsky Orchester vortrefflich. Mikhail Petrenko gestaltete Hunding mit sehr schlankem Bass, gelegentlich hätte man sich sogar noch mehr Fülle gewünscht. Ein Glücksfall ist die ausgezeichnete Sieglinde von Eva-Maria Westbroek, die die leidenschaftlichen Momente ihrer Partie in bewegender Weise betonte. Der polternde Rhythmus Hundings kündigte sofort den Eifersuchtskonflikt mit Siegmund an. Siegmunds Gesang „Winterstürme wichen dem Wonnemond“ besaß fast schon melancholische Akzente. Wälsungen-, Sieglinden- und Minnemotiv gingen nahtlos ineinander über, es kam zu einem unaufhörlichen melodischen Strömen, das Valery Gergiev berührend auskostete. Das schwermütige Siegmundmotiv wurde durch Sieglindes plötzlichen Entschluss mit G-As in den Bässen durchkreuzt: Der betäubende Schlaftrunk für Hunding erhielt hier gebührendes Gewicht. Da legte sich ein irisierender Zauber über das Orchester. Das Sieglindenmotiv gestaltete Eva-Maria Westbroek mit kluger Atemtechnik und Stimmführung, die den gesanglichen Reserven genügend Raum ließ. Die Kantilenen des Liebesgesanges erhielten eine immer größere klangliche Fülle und Weite, die vom durchsichtigen Orchesterklang unterstützt wurden. Empordringende Walhall-Harmonien unterstrich Gergiev mit elektrisierender Anspannung. Üppigste Klangfarben begleiteten die ekstatischen Ausbrüche des Liebespaares. Im zweiten Aufzug nahmen die schicksalhaften Beziehungsfäden der Handlung dann deutliche Gestalt an. Die Geschicke der Götter und Menschen traten drastisch hervor. Wotan, der in Siegmund den treuen Helden zu erkennen glaubte, muss diesen tragischen Irrtum mit dem Untergang des Sohnes und dem Verlust seiner Lieblingstochter Brünnhilde bezahlen. Das vorwärtsstürmende Siegschwertmotiv besaß hier monumentale Blechbläserpräsenz und akustische Schärfe, die nie nachließ. Ein zuversichtlich gestaltetes Fluchtmotiv erinnerte außerdem in markigen Strichen an die Flucht der liebenden Geschwister. Unerbittlich vorwärtstreibender Impetus beherrschte diese bemerkenswert unkonventionelle Interpretation, Gergiev hörte als Dirigent hier aber immer wieder genau auf die Sänger. Dadurch konnte sich der hervorragende Wotan von Rene Pape mit heftiger Deklamation und emotionalen Ausbrüchen bestens entfalten. Der grimmig durch das Fluchtmotiv dröhnende Hunding-Rhythmus wirkte markerschütternd. In der heftigen Auseinandersetzung mit Wotan gewann auch die von Ekaterina Gubanova mit warmem Mezzosopran verkörperte Fricka große Statur. Schwung und Feinheit kennzeichnete Frickas Auftritt, der immer hoheitsvoller wurde. Wotans Ausruf „O heilige Schmach!“ wirkte dabei umso präsenter, denn die grellen Dissonanzen des Fluchmotivs D zu Des und Ges zu G gewannen immer unheimlichere Kräfte. Die Erwähnung Alberichs brachte das Hassmotiv hier erschreckend zum Vorschein. Sehr viel Sinn hatte Valery Gergiev für die sich behutsam steigernden Crescendo-Passagen, die auch bisher Ungehörtes ans Licht brachten. So gingen die zahlreichen Details nicht unter. Bei der Szene „Todverkündigung“ zwischen Brünnhilde und Siegmund zeigte sich Stuart Skelton als Siegmund nochmals in bestem Licht. Evelyn Herlitzius war als Brünnhilde ebenfalls ein sehr positiver Faktor, ihre Stimme klang immer erstaunlich frisch und in der Höhenlage ungemein zielsicher. Hundings Ruf im tiefen C bohrte sich messerscharf in die Ohren der Zuhörer. Siegmunds Tod durch Wotan selbst war von erschütternder Gewalt durchdrungen, die Valery Gergiev aufwühlend beschwor. Ein Höhepunkt der gesamten Aufführung war dann der dritte Akt mit dem berühmten Walkürenritt, wo sich die exzellenten „Walküren“ Zhanna Dombrovskaja (Gerhilde), Irina Vasilieva (Ortlinde), Natalia Yevstafieva (Waltraute), Ekaterina Krapivina (Schwertleite), Oxana Shilova (Helmwige), Varvara Solovyova (Siegrune), Anna Kiknadze (Grimgerde) und Evelina Agabalaeva (Roßweiße) an gesanglichem Strahlglanz gegenseitig überboten. Walkürenruf und Walkürenmotiv besaßen durchdringenden Klangzauber. Die Blechbläser steigerten hier ihre Präsenz im Vergleich zum ersten Aufzug nochmals erheblich. Wie hier der ungeheure Gewittersturm die Gottesnähe in Sekundenschritten abwärts kennzeichnete, besaß ergreifende Wucht. Neben dem Ringmotiv erschien dabei auch das Drachenmotiv bei Brünnhildes Eintritt in den Wald, in dem Fafner als Drache über den Nibelungenhort wacht.
Überhaupt zeigte Gergiev bei dieser konzertanten „Walküre“ einen erstaunlichen Sinn für das Gliederungsnetz der umfangreichen Motivtechnik, von der Richard Wagners Musik lebt. Eva-Maria Westbroeks Gesang wuchs bei der Nachricht einer bevorstehenden Geburt zu höchster Energie und Tatenlust empor – die erlöschende Lebenskraft war plötzlich wie weggeblasen. Evelyn Herlitzius verlieh der Weissagung Brünnhildes eine wahrhaft bewegende Emphase, der Septimen-Abwärtsgang erinnerte sehr deutlich an das Todverkündigungsduett. Evelyn Herlitzius kennzeichnete das Motiv der Kindesliebe aus ihrer tiefen Erniedrigung heraus mit stimmlicher Tragfähigkeit und rührender Beredtsamkeit beim Sorgemotiv. Der heftige Zwiespalt Wotans kam auch bei Rene Pape sehr eindringlich zum Vorschein. Evelyn Herlitzius gestaltete bei ihrer Wonne der Rührung die weiche Kantilene in As-Dur mit innerer Glut. Der Schlafzauber mit dem Unisono-Mahnruf entfaltete dann Wotans Machtfülle in Rene Papes Darstellung, während Evelyn Herlitzius als Brünnhilde die Todesangst vor dem bevorstehenden Schicksal der Beschimpfung bedrückend zum Ausdruck brachte. Sie erneuerte ihr Verlangen mit glühendem Ungestüm: Ein Feuer solle den Felsen umlodern, um die Freier zu verscheuchen. „Wotan’s Abschied und Feuerzauber“ beeindruckte so mit überschwenglichen Tonfolgen und einem jubelnden Walkürenmotiv. Die Helligkeit des Grundfarbenklangs mit dem schnelleren Motiv arbeitete Valery Gergiev mit dem Mariinsky Orchester sehr gut heraus. So geriet der „Abschiedsgruß“ („der Augen leuchtendes Paar“) zu einer Beschwörung von Liebesentsagung. Das Logemotiv fuhr hier wie ein Blitzstrahl dazwischen. Der Ausruf „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie!“ geriet so zu einem Mahnruf der Wandlung innerhalb der gesamten Tetralogie des „Ring des Nibelungen“. Eine deutliche Warnung auch an Alberich. „Das kann man kaum mehr komponieren nennen„, meinte der Bayreuther Meister zu seinem Werk.
Und im Festspielhaus Baden-Baden verstand man diese Intention. Für das gesamte Ensemble gab es Ovationen nach diesem besonderen E-Dur-Abschied Wotans.
Alexander Walther