Baden-Baden: „LA TRAVIATA“ 22.05.2015. Herein spaziert in die Ménagerie…
Olga Peretyatko. Foto: Andrea Kremper
Nach seiner Wildwest-Parodie 2012 inszenierte Rolando Villazón zum zweiten Mal im Festspielhaus und verlegte die Handlung von „La Traviata“ (Giuseppe Verdi) ins Milieu des Varieté.
Zum Vorspiel kauert Violetta sterbenskrank am Boden vor geschlossenen Vorhang. Aha eine Art Rückblende, denkt man sich – doch weit gefehlt! Die Portiere öffnet sich und zeigt zwei schräg verlaufende Arenen, mit je nach Bedarf abgegrenzter Hinterbühne, einer Chorempore (Johannes Leiacker). Violetta verweist ihr Double am Trapez in artistischer Grazie von Susanne Preissler gemimt, zur Rampe und steht nun im szenischen Mittelpunkt. À la Karneval in Venedig tummelt sich phantastisch zu allen Stilepochen kostümiert (Thibault Vancraenenbroeck) ein buntes Volk von Artisten, Akrobaten, Gauklern, Tänzern etc. vortrefflich choreographiert (Philippe Giraudeau) in einer surrealistischen Welt, ein wahrer Augenschmaus. Die ersten zwei Akte bildeten die durchgespielte Einheit und aller hinreißenden Optik zum Trotz gelang es Villazón, dem erfahrenen Sänger grandioser Produktionen der Vergangenheit nicht, die Tiefenpsychologie der Protagonisten umzusetzen. Es schien, als fielen ihm die Personifizierungen schwer, die Figuren bewegten sich teils mehr distanziert voneinander, statt sich in Verschmelzung zu optimieren.
Äußerst befremdlich die Darstellung des Giorgio Germont drohend als statuarischer Komtur, vom Scheitel bis Sohle in steinernem Grau. Entgegen meiner persönlichen Einwände wurde das Team dieser Produktion mit dem hohen Unterhaltungs-Effekt einhellig bejubelt.
Pablo Heras-Casado am Pult des Balthasar-Neumann-Ensembles verstand es vorzüglich wie man Verdi bzw. La Traviata dirigiert und setzte zumindest während den Ensemble-Szenen vom Pult aus, die Bühne unter Strom. Federnd leicht, spritzig, transparent, rhythmisch pointiert folgt das prächtig musizierende Orchester den Eingebungen des temperamentvollen Dirigenten. Ungewöhnlich breit, jedoch sehr sängerfreundlich geriet dagegen der Verdi-Sound zu diversen Arien und Duetten, in meinen Ohren geradezu spannungslos und blutleer.
Die Titelpartie verkörperte die russische Koloratur-Sopranistin Olga Peretyatko und erwies sich als epochale, darstellerische Rollenvertreterin. Sie beherrscht das minimalische Spiel des zunächst unbekümmerten Varieté-Stars bis zum dramatischen, höchst nuanciert dargestellten Finale vortrefflich. Künstler im Vergleich gegeneinander auszuspielen war noch nie mein Ding. Olga Peretyatko sang die Violetta ohne Mühe, schön timbriert, schwang sich der Sopran in Koloraturhöhen, bewältigte Verzierungen mit leicht dramatischen Farben und dennoch gewann ich den Eindruck diese Partie kam zu früh, als versuche sich Olympia oder Gilda mit der Traviata.
Optimaler gelang hingegen Atalla Ayan das Portrait des Alfredo, kein naiver Schüchterling aus der Provinz, nein der junge smarte Brasilianer profilierte sich als eigenständiger Charakter, mit einer Portion selbstbewusster Männlichkeit. Vokal bestach Ayan mit virilem Timbre, nuanciertem wohlklingenden Mittelbereich seines tenoralen Spektrums, lediglich den Höhen fehlte der krönende Strahlglanz.
In Programmen und auf Plakaten prangte noch der Name Ludovic Tezier nun wurde der französische Bariton durch Simone Piazolla kommentarlos ersetzt. Doch ließ sich diese Umbesetzung leicht verschmerzen, denn der italienische Nachwuchs-Bariton erwies sich mehr als respektabler Ersatz. Optisch zum statuarischen Komtur verdammt, wirkte der junge Sänger mehr wie ein Bruder Alfredos, denn des autokratischen Papas. Ohne jegliche Larmoyanz entströmte das herrlich timbrierte, wohlklingende Bariton-Potenzial in optimaler Prachtentfaltung aus der Kehle des kultivierten Sängers und gewann mit dieser prägnanten Leistung, die Sympathie des Auditoriums.
Dynamisch, volltönend, in bester Vokal-Qualität fügte sich spielfreudig der Balthasar-Neumann-Chor (Detlef Bratschke) ins Geschehen. Schönstimmig präsentierten sich die Besetzungen von Annina (Deniz Uzun), Flora Bervoix (Christina Daletska), Gastone (Emiliano Gonzales Toro), d´Obigny (Konstantin Wolff), die Chorsolisten: Hermann Oswald (Giuseppe), Stefan Geyer (Kommissionär), Raimonds Spogis (Diener Floras), weniger schmeichelhaft wirkten Tom Fox (Douphol), Walter Fink (Grenvil).
Leistungsgerecht die Verteilung der Publikumsgunst an alle Mitwirkenden einschl. des Produktionsteams.
Gerhard Hoffmann