Osterfestspiele Baden-Baden
„ELEKTRA“ 31.3. 2024(Premiere 23.3.) – Maximale Transparenz und Verständlichkeit
Michaela Schuster (Klytämnestra), Elza van den Heever (Chrysothemis). Foto: Monika Rittershaus
Wie schon bei der letztjährigen Einstudierung von Richard Strauss „Frau ohne Schatten“ waltete der Spiritus rector des ganzen Unternehmens im Graben des Festspielhauses. Dort garantierte Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern erneut für eine Sternstunde an höchster musikalischer Differenzierungskunst, an klanglichen Abschattierungen, an traumhaft leichten und organisch eindringlichen Übergängen. Gleichzeitig erzielte er wieder eine Eindringlichkeit des Ausdrucks, die nicht auf brachiale Gewalt und Eruption, sondern Präzision und Abrundung setzt. Die Musiker steuerten dazu edel samtige Streicher-Flächen, erlesen farbreiche Holzbläser-Figurationen und sensibel weich angesetzte Blechbläser-Einsätze bei. Auffallend auch die federnd schlanken und doch unmissverständliche Zeichen der dramatischen Situationen setzenden Pauken. Alles in allem eine Wiedergabe und Interpretation, die durchaus die Grenzen zur Moderne, speziell auch das Morbide der Entstehungszeit, aber den Gipfel spätromantischer Musik nicht verstörend, sondern in seiner ganzen Dichte packend auslotete.
Nina Stemme. Foto: Monika Rittershaus
Unter diesen Vorgaben konnten sich die Sänger ideal ohne Verleitung zum Forcieren in das orchestrale Gerüst einfügen. Nina Stemme ist eine in Anbetracht ihrer doch in die Spätphase gehenden Karriere immer noch höchst respektable, mit Erfahrung und Sicherheit in der Ausspielung ihrer vokalen Mittel agierende Elektra. Abgesehen von wenigen steifen und etwas knapp angesetzten Extrem-Tönen gestaltete sie die intensiv angelegte Partie in durchgehend klanglicher Abrundung, tragend in jeder Lage, erfüllt mit nuancierten Details der Interpretation und reichhaltig in den Emotionen zwischen Rachebesessenheit und inniger Ergriffenheit bei der Wiederbegegnung mit Orest.
Elza van den Heever setzt mit ihrem weicheren, in der Mittellage für die Chrysothemis fast etwas zu schmalen und leichten Sopran den passenden Kontrast für die zarter besaitete Schwester. In der Höhe blüht und schwingt die Stimme der Südafrikanerin dagegen groß auf und verhilft dadurch z.B. ihrem Bekenntnis für ein traditionelles Frauenbild zu optimaler Wirksamkeit. Spielerisch zeigt sie durchaus auch Züge des inneren Aufbegehrens gegen ihre eigenen Schwächen.
Im Charakterfach ist Michaela Schuster derzeit eine führende Kraft, was sie nach ihrer letztjährigen Amme nun auch mit der Klytämnestra unter Beweis stellte. Die Kombination aus deklamatorisch abgründiger Expressivität und noch in allen Lagen gut erhaltenen Mitteln ihres individuell timbrierten Mezzosoprans ergibt das Bild einer Frau, die mit ihren hier langen grauen Haaren und trotz ihres von Wahnbildern geprägten Daseins noch nicht zum alten Eisen gehört.
Seinen knapp umrissenen, aber maßgeblichen Auftritt als Orest nutzt Johan Reuter zu einem mit festem Bassbariton deutlich gezeichneten Profil des Orest, der hier als Kriegsversehrter mit Beinprothese zurück kehrt und sich dennoch bewundernswert geschickt in der für die Sänger nicht ungefährlichen Szenerie (dazu später mehr) zurecht findet. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke ist ein durchschnittlich solider Aegisth, der es mit wenig markanten charaktertenoralen Zügen nicht schafft, die drei Minuten seiner Szene zu einer erinnerungswürdigen zu machen.
Nina Stemme, Johan Reuter. Foto: Monika Rittershaus
Abgesehen von den eindringlich intonierten Einwürfen des Tenors Lucas van Lierop als Jungem Diener und dem deklamatorisch einwandfreien Alt Katharina Magieras als Erster Magd blieben die weiteren Nebenrollen für Festspiel-Verhältnisse eher im unteren Level: Marvic Monreal (2.Magd), Alexandra Ionis (3.Magd), Dorothea Herbert (4.Magd), Lauren Fagan (5. Magd), Kirsi Tiihonen (Aufseherin), Andrew Harris (Alter Diener). Der Ergänzung halber erwähnt die Kleinstrollen: Serafina Starke (Vertraute), Anna Denisova (Schleppträgerin) und Anthony Robin Schneider (Pfleger des Orest).
Ein nicht nachvollziehbarer Luxus ist das Engagement des Prager Philharmonischen Chors für den Mini-Einsatz der Rufe aus dem Off. Da hätten sich sicher einige gute Stimmen aus der Region für weniger Gage finden lassen.
Dem musikalischen Ereignis im Graben konnten Philipp Stölzl und Philipp M.Krenn als Regisseure und Ausstatter keine gleichwertig bis ins Detail stimmige Inszenierung an die Seite stellen bzw. damit zu verschmelzen. Einleuchtend ist die Konzentration auf ein Einheits-Bühnenbild, einer riesigen Treppe, die sich vielfältig zu unterschiedlich hohen Stufen und damit wechselnden Zwischenräumen verwandeln lässt, in denen die Personen mehr oder weniger in ihren Schicksalen gefangen sind und nur begrenzte Bewegungsmöglichkeiten haben. Diese sind angelehnt an ihre Situationen verunsichernd und fordern in ihren teilweisen Kletter-Aktionen zu größter Konzentration heraus. Ob die Einblendung des gesamten Textes von Hugo von Hofmannsthal in unterschiedlich großen Lettern verteilt auf den ganzen Bühnenraum zusätzlich zu den obligatorisch gewordenen Übertiteln einen erweiternden Brennpunkt schaffen, in dem die Darsteller auch bildlich gefangen sind, mag jeder für sich entscheiden. Sagen wir es mal so: ihre Integration ist durchweg organisch und nicht aufdringlich gelungen, verleitet allerdings manchmal doch dazu, sich an den Worten festzusaugen anstatt den Blick auf die Sänger zu richten.
Optisch ist inklusive der strengen Kostüme von Kathi Maurer alles in Schwarz-Weiß gehalten. Erst nach vollbrachter Rache wird die Bühne auch in Rot- und Violett-Tönen erleuchtet.
Wenn schon der Text so übermächtig ins Zentrum gerückt wird, sollten nicht nur einige, sondern alle Details entsprechend umgesetzt werden. Nur ein Beispiel: der Abgang Klytämnestras oder die Morde auf offener Bühne, so filmreif spannend der Muttermord durch das Herabfallen eines Doubles über mehrere hohe Stufen in dem Moment erscheinen mag. Solchen Unstimmigkeiten stehen indes doch auch starke Auseinandersetzungen zwischen den Schwestern, der Auftrittsmonolog Elektras sowie deren berührend verhaltener Todestanz gegenüber.
Der spontan einsetzende und hauptsächlich auf das Protagonisten-Trio konzentrierte Schlussjubel steigerte sich bei jedem Erscheinen von Kirill Petrenko in frenetische Dimensionen.
Udo Klebes