Baden-Baden: „LONDON PHILHARMONIC ORCHESTRA – VLADIMIR JUROWSKI“ – 04.12.2022
Abschied vom Leben ….
Vladimir Jurowski. Foto: Andrea Kremper
Fast auf den Tag vor 13 Jahren war das London Philharmonic Orchestra zu Gast im Festspielhaus mit demselben Programm der Abschieds-Symphonie der „Neunten“ von Gustav Mahler. Heute am zweiten Advent beglückte Vladimir Jurowski am Pult des englischen Elite-Orchesters die andächtig lauschende Zuhörerschaft.
Abschied, Todesnähe sind die Bezeichnungen des Werkes stets umweht ein gewisser Lebewohl-Charakter das gesamte Werk, ein Abgesang. Zu Harfenklang harmonisch erhob sich die Einleitung des ersten Satzes, in ihm verschmolzen die Elemente der drei thematischen Komplexe zu gegensätzlicher dennoch miteinander verwandten Formenkategorie und bildeten das Substrat des symphonischen Prozesses des Andante comodo. Aus melodischen Fragmenten fügte sich das Hauptthema vom Dur ins dissonante Moll dynamischen angespannten Charakters. Melodische Aufschwünge, luxurierende Instrumentationen beherrschten das Klangbild. Ein Trauermarsch wurde jäh unterbrochen von schattenhaften Relikten, eine Solokadenz von Flöte und Horn wurde aufgelöst und endet in katastrophenartigem Zusammensinken, wie in Verklärung verlosch der Satz. Vladimir Jurowski wählte bedächtige Tempi, betonte zuweilen durch zugespitzte schattenhafte Passagen den eruptiven Gesamtklang. Sein Musizierstil, so schien mir, wollte sich jeglicher Larmoyanz verweigern, betonte mehr die dynamische Lebensbejahung.
Schattenhaft erklangen die Themen des zweiten Satzes, eines Scherzos aus drei variablen Komplexen zusammengesetzt: es begegnete uns ein schwerfälliger Ländler, ein grotesk überzogener Walzer sowie einem zeitlupenhaft zersetzten erneuten Ländler, einer Kombination aus avancierter Harmonik bis zur Floskelhaftigkeit entstellt. Der versierte Dirigent wies den musikalischen Fluss wie selbstverständlich in jene vom Komponisten vorgegebene strukturellen Kanäle, man gewann den Eindruck die Musik fände sich immer wieder neu, die Themen erklangen mehr im Sound von Sehnsucht und Leidenschaft statt von Tod und Trauer.
Auffallend, interessant das Arrangement des Instrumentariums: links und rechts die Violinen, Bratschen dahinter in der zweiten Reihe die Celli, die Harfe vordergründig links platziert. Traumhafte Klänge durfte man diesen Gruppen vernehmen. Von kompositorischen Ecken und kantigem Felsengestein im expressiven Verlauf von den unglaublich akkuraten Bläserfraktionen brillant und präzise musiziert, durchflutete eine lichte Transparenz diese zum Himmel strebende Musik. Dissonante variable Töne gewiss beinhaltete die Rondo-Burleske und unterstrichen, ja betonten auf besondere Weise das qualitativ hohe Niveau des exzellenten London Philharmonic Orchestra auf ganz besondere Weise. Die grandiose Ensembleleistung, die seidenweichen Streicher, die warmtönenden Holzbläser oder die perfekte Brillanz der Blechbläser erstaunten in ihrer vortrefflichen Spielfreude gleichermaßen. Akribisch gleich einer tönenden Biographie Mahlers zogen die thematischen Schichten des Werkes vorüber, zogen die Hörer unwillkürlich in ihren Bann.
Zu überirdischen Sphärenklängen inspirierte Jurowsk den elitären Klangkörper im finalen Adagio, gleich einem Verfließen der Wolken im Blau der himmlischen Atmosphäre intonierten die Streicher den vielschichtigen Melos des ergreifenden Abschiedsgesangs, welcher sich anmutig steigernd im Crescendo auftürmte. In einzigartiger Faszilität zwischen Melancholie und Apotheose in schier unhörbaren Piani der Streicher entschwebte die Musik, man wähnte sich der Welt abhanden gekommen.
Atemlose sehr lange ergriffene Stille, sodann erhob sich langsam der Beifall, schwoll an und brandete in tosende Ovationen. Standing Ovation für Vladimir Jurowski und sein hervorragendes LPO.
Gerhard Hoffmann