Baden-Baden / Festspielhaus: „WERTHER“ – Premiere 24.11.2023
Jonathan Tetelman, Kate Lindsey. Foto: Andrea Kremper
Nostalgisch rekursiv blickend auf die glanzvolle Epoche des 19. Jahrhunderts als Baden-Baden noch als die Bäderstadt des europäischen Hochadels galt, lassen Bau und Foyer noch heute den einstigen Prunk erahnen und so standen die „Herbstfestspiele 2023“ im Festspielhaus unter dem Slogan „LA GRANDE GARE“, nicht nur im Trend sondern auch zur Wiederbelebung des französischen Opern-Repertoires zu dessen Anlass man die diesjährigen Herbstfestspiele mit „Werther“ von Jules Massenet glanzvoll eröffnete.
Robert Carsen erzählte die Story um den unglücklich leidenden Werther textdetailliert ohne Verfremdungen, verlegte die Handlung zeitlos in die Gegenwart, Luis F. Cavalho übernahm die vorzüglichen Kostüm-Créationen Charlotte mit dunklen Strümpfen im weinroten Mini wirkte ungemein attraktiv, Werther léger in Lederjacke und Jeans etc.
In Anlehnung des Briefromans „Die Leiden des jungen Werthers“ von J.W.v. Goethe hatte Radu Boruzescu die geniale Idee die Handlung in einen Bibliotheksraum von vier Etagen zu verlegen. Elegante Ledergarnituren und stilvolle Lampen mit entsprechender Illuminierung (Carsen + Peter van Praet) optimierten das ansprechende Interieur. Carsen beleuchtete die Szenen um die Kinder, Le Bailli, Schmidt und Johann dezenter, verlegte das dramatische Geschehen mehr auf das Quartett der Hauptpersonen. Seine großartigen Sänger-Darstellerinnen und Darsteller nutzten die Gunst der Stunde und übertrafen sich selbst, so gingen intime Momente und Konstellationen um Charlotte-Werther-Albert-Sophie regelrecht unter die Haut. Während des dritten und vierten Aktes schloss sich während des hochdramatischen Intermezzos der Vorhang, hob sich erneut, gab den Blick frei auf leere Regale, deren Inhalt zu einem Berg von Büchern gehäuft, alle Hoffnungen be(unter)grabend, inmitten der sterbende Werther, einer Szenerie von atemberaubender Sogwirkung.
Also doch kein Grund am heutigen modernen Regietheater ganz zu verzweifeln, es gibt sie noch vereinzelt die genialen Regie-Könner! Bravo!
Musiziert wurde auf hohem Niveau, Thomas Hengelbrock inzwischen Wahl-Pariser nahm sich wohl sehr intensiv dem Metier Massenet an, das Resultat konnte sich hören lassen. Der versierte Dirigent leitete spektakulär das vorzüglich aufspielende Balthasar-Neumann-Orchester, zauberte effektvoll einen so reinen, exakten, exemplarischen Orchesterklang. In schwelgerischen Couleurs malte Hengelbrock Massenets Partitur in feinen Pastellstrichen, ließ die hinreißende Melodik plastisch, transparent erklingen, zudem erwies sich der exzellente Dirigent als sensibler, wachsamer Sängerbegleiter.
Derart vortrefflich instrumental eingebettet war es für Solistinnen und Solisten ein vokales Vergnügen ihre Parts zu gestalten. Als Titel(anti)held stellte sich der inzwischen international renommierte Spinto-Tenor Jonathan Tetelman vor, ein Sänger von höchst positiver Aura, idealen optischen Vorzügen des jugendlichen Schwärmers sowie mit den besten lyrischen wie dramatischen Vokal-Attributen gesegnet. Tetelman gestaltete den Werther expressiv ohne vordergründigen Pathos, hielt stets die Balance zwischen intensivem Ausdruck und wohlkalkulierter Distanz. Zur vielschichtigen darstellerischen Bandbreite setzte der smarte Sänger umwerfende musikalische Akzente. Herrlich timbriert erklang sein Tenor optimal in allen Passagen, strömte legatoreich in der maskulinen Mittellage dahin, erklomm Höhenaufschwünge von silberheller durchschlagender Strahlkraft, jedoch erschienen die krönenden Obertöne aufgesetzt, nicht auf Atem ausgesungen. Eine wohl persönliche Manie des Sängers wie ich sie bereits als Rigoletto-Herzog in Frankfurt vernahm, sie seltsamerweise in Berlin als Paolo (Francesca da Rimini) unterließ und nun heute leider wieder zum Einsatz brachte. Diese kleine „Merkerei“ schmälerte jedoch in keiner Weise die grandiose Gesamtleistung dieses höchst eindrucksvollen Rollenportraits.
Darstellerisch, optisch wie vokal brachte Kate Lindsey die Hypothese des idealen Rollenprofils mit ein. Zur anmutig verkörperten Bühnenpräsenz beeindruckte die ausgezeichnete Mezzosopranistin mit überraschend stimmlicher Bandbreite, kombinierte ihre fülligen Tiefen- und Mittelbereiche mit frei strömendem Legato, wunderschönem Timbre, feinen differenzierten Farbnuancen, traumhaften Piani und klaren wohlklingenden Obertönen. Die beeindruckende Interpretation dieser unglücklichen Frau dürfte noch lange in Erinnerung bleiben.
Mit kristallklarem, angenehm timbriertem Sopran setzte sich Elsa Benoit als quirlige Sophie in Szene. Dem sonst so strengen Albert schenkte Nikolai Zemlianskikh weichere Wesenszüge. Zudem punktete der sympathische bestens phrasierende Sänger mit schönem Timbre sowie noblem, volltönendem Kavaliersbariton.
In bester Vokal-Manier ergänzten Scott Wilde (Le Bailli), Kresimir Spicer (Schmidt), William Dazeley (Johann) sowie die schönen Kinderstimmen des Cantus Juvenum Karlsruhe das vortreffliche Ensemble.
Finalszene mit Jonathan Tetelman, Kate Lindsey. Foto: Andrea Kremper
Mit prasselndem Applaus, lautstarken Bravochören, viel Jubel, Standing Ovation für alle Beteiligten incl. dem Produktionsteam wurde ein exzellenter Opernabend gefeiert.
Gerhard Hoffmann