Baden-Baden / Festspielhaus: „UTOPIA ORCHESTRA – TEODOR CURRENTZIS“ – 25.10.2024
Teodor Curentzis. Foto: Stas Levshin
Der einstige Enfant terrible der Pultstars hat seine wilden Jahre längst hinter sich, reifte inzwischen und bleibt dennoch ein Revolutionär in der Klassikszene. Mit seinem neue gegründeten Utopia Orchestra bescherte nun Teodor Currentzis dem Festspielhaus an der Oos eine Sternstunde der Symphonie.
Zwei Tage zuvor hatte das Auftragswerk „Passacaglia – Music for Orchestra IX“ des kalifornischen Komponisten Jay Schwartz (*1964) seine UA in Berlin und wurde nun ebenso in Baden-Baden gefeiert. Nun muss ich gestehen, dass ich zeitgenössische Werke leider skeptisch beäuge, jedoch schlugen meine Vorbehalte schnell in geradezu enthusiastische Begeisterung um. Kurz zum Werk: Schwartz greift in seinem neuen Werk den spanischen Stamm des Wortes „Passacaglia“ auf, „passa la calle“ d.h. über die Straße gehen. Dies geschieht musikalisch, indem er eine aufsteigende Gesangslinie aus dem Schubert Lied Du bist die Ruh durch seine Komposition wandern lässt. Der Gedanke des Wanderns hat für Schwartz eine zusätzliche Bedeutung, die über das reine musikalische Material hinausgeht. Soweit so gut, nun zur Musik!
Kaum hörbare Paukenschläge in schier unendlicher Wiederholung, ich zählte bis 15 mit, es folgten noch mehrere sodann übernahm die Tuba die ersten melodischen Takte, ich wähnte mich zur Fafner-Szene im „Siegfried“ und glaubte Wagner zu vernehmen. Langsam begann es sich im Orchester zu regen, Instrumental-Wellen wuchsen zu Klangwogen und wieder kam mir die Ähnlichkeit mit Sibelius in den Sinn, dessen teils sinfonischer Aufbau ähnlich klingt. Man vernahm orchestrale Melodien miteinander verwoben und letztlich zusammengeführt in prächtigem Klangrausch. Ich vernahm zu meiner Verwunderung keinen disharmonischen Ton, großartig musizierte das vortreffliche Utopia Orchestra diese sphärisch-kosmischen harmonischen Instrumental-Eruptionen in höchster Vollendung. Das Publikum teilte meine Begeisterung und feierte ebenso den anwesenden, sichtlich erfreuten Komponisten stürmisch.
In Pausengesprächen vernahm ich nur positive Stimmen, glückliche Mienen danken es Ihnen.
Teodor Currentzis gründete das Utopia Orchestra und gab mit dem exzellenten Klangkörper mit größtenteils jungen Musikerinnen und Musikern aus aller Welt im Jahre 2022 das erste öffentliche Konzert. Das Ziel dieses Orchesters mit seinem Charismatischen Dirigenten ist ohne Kompromisse den eigenen Vorstellungen zu folgen auf der Suche nach besten klanglichen Ergebnissen. Für jedes Programm findet sich das Orchester neu zusammen, je nach den Anforderungen der Partituren. Umso mehr erstaunt es, mit welchem Können, ungeheurer Präzision, unglaublicher Sensibilität man zu Werke geht.
Nach der Pause jedoch folgte die pure Glückseligkeit mit der „Fünften“ von Gustav Mahler. Dutzendfach mit den besten Orchestern der Welt bereits erlebt, widerfuhren mir heute ganz andere Dimension des Hörens und intensiver Genuss-Effekte. Currentzis schenkte der Partitur in seiner Version eine ungeheure Spontanität, eine fließende nie nachlassende Tension und Dynamik, so wurde diese Interpretation zur absolut ungewöhnlichen Performance.
Verheißungsvoll eröffneten die Trompetenfanfaren der dimensionalen Blechfraktionen den Trauermarsch, ließ bereits die immense Flexibilität dieses Klangkörpers erahnen. Virtuos leiteten die dunklen Celli und weichen Violinen die Marschrhythmen ein, zu den sensiblen Empfindungen der Holzbläser hellte sich die düstere Stimmung allmählich auf. Gestikulierend erhob sich das erste Trio mit grellen Trompetenmotiven zu schwirrenden Geigen, leiteten wieder in den schwermütigen Marsch über, fand sodann seinen disharmonisch-grotesken Höhepunkt im Folgetrio um in wehmütiger Resignation zu verlöschen.
Im stürmisch bewegten zweiten Satz schien sich ein Mensch in hemmungsloser Klage gegen sein unbarmherziges Schicksal aufzubäumen. Ein weitgesponnenes zerklüftetes Motiv geisterte beängstigend durch die Thematik, sehr schroff, kantig formulierte Currentzis die Einleitung, ließ konträr in emotionaler Intensität den herrlichen Streicherklang aufleuchten, schenkte den ausdrucksstarken Frequenzen eine ruhige Motivation und entlud die jähen Ausbrüche in brillanter Formation.
Der ambivalente, zwischen forciertem Elan und gebrochener Reminiszenz (Ländler-Walzer-Hornepisode) changierende dritte Satz beherbergte das dimensionierte Scherzo mit seinen Trios sowie der angedeuteten Burleske. Das instrumentale anmutende Chaos wurde vom bestens aufspielenden Orchester in geradezu umwerfender Perfektion dargeboten.
In traumhaftem Musizieren schlossen sich das Adagietto sowie pausenlos der Finalsatz an. Einer geradezu spürbaren Flexibilität wurde man bei Orchester und der einfühlsamen Stabführung gewahr, es entluden sich Klänge von unvorstellbarer Schönheit, in einem Höchstmaß von Vertrautheit mit der Partitur. Ohne Larmoyanz pendelte sich der Klangkörper zum schwelgerischen Aufblühen der wunderschönen Streicher ein, wie es schien sah der Dirigent des Komponisten Gefühle zu erkennen und musizierte, nein zelebrierte diese Weisen als innige Liebeserklärung Mahlers an seine Frau Alma.
Keck trugen die Hörner die Einleitung des finalen Rondo vor, zur Celli-Verstärkung vereinten sich die energischen Themen der animierten Instrumentalgruppen, gleich einer befreienden Überwindung von Trauer und Resignation. Kraftvoll in erfrischender klar genuiner Entwicklung führte Currentzis dieses famos musizierende Orchester mit Elan in die gipfelnden Final-Steigerungen dieser grandiosen Symphonie. Wunder gibt es immer wieder!
Ein Aufschrei aus über zweitausend Kehlen folgte, das Publikum erhob sich spontan, applaudierte prasselnd, Bravochöre schallten zur Bühne wie man sie sonst nur aus dem Fussball-Stadion kennt.
Ungewöhnlich nach einem so kompakten Werk gewährten die Gefeierten dennoch eine Zugabe und ließen die Motette Jesu, meine Freude von J. S. Bach in himmlischer Instrumentalisierung plus Orchester-Chor erklingen.
Ein Konzertabend der Sonderklasse bleibt als Sternstunde in steter Erinnerung.
Gerhard Hoffmann