Tschaikowskys „Pique Dame“ im Festspielhaus Baden-Baden
DEN WAHNSINN IN PACKENDE BILDER GEFASST
Copyright: Andrea Kremper
Premiere von Peter Tschaikowskys „Pique Dame“ mit dem Mariinsky Theater am 9. Juli bei den Sommerfestspielen im Festspielhaus/BADEN-BADEN
„Es gehört eine ungeheure Willenskraft dazu, das Leben zu ertragen, dass ich in Petersburg führe„, schrieb Peter Tschaikowsky1889 in einem Brief an seine Gönnerin Nadeshda von Meck. Und der souveräne Regisseur Alexei Stepanyuk lässt keinen Zweifel daran, dass er mit der in sich zerrissenen Figur des von Mikhael Vekua glänzend gesungenen Herman in gewisser Weise Tschaikowsky selbst meint, der an seinem Leben letztendlich scheitert. Die Idee des Wahnsinns wird hier in genialer Weise auf das Bühnenbild von Alexander Orlov übertragen, denn die riesigen Säulen, Kronleuchter und Metallstäbe des schlossähnlichen Wohngebäudes scheinen sich ständig zu bewegen und zu verändern. Einmal wird sogar ein mysteriöser Himmel freigegeben.
Copyright: Andrea Kremper
Den Sommergarten im Frühling nimmt man im ersten Akt eher in düsteren Farben wahr. Eine silberne Kugel steht wohl stellvertretend für die Erde im Raum. Herman erscheint zugleich als Kind in einer stummen Rolle (Yegor Maximov), die beiden Offiziere Tschekalinski und Surin (stimmlich fein aufeinander abgestimmt: Alexander Trofimov und Yuri Vlasov) sorgen sich um ihren Freund Herman, der in die Spielbank geht, obwohl er kein Geld hat. Dem Grafen Tomski (facettenreich: Roman Burdenko) vertraut sich Herman an. Denn er hat sich in eine schöne Unbekannte verliebt und möchte eine hohe Geldsumme gewinnen, um ihr einen Heiratsantrag machen zu können. Zwischendurch erkennt man den markanten Kinderchor der Rundfunk- und Fernsehgesellschaft St. Petersburg unter der kompetenten Leitung von Igor Gribkov, der das Geschehen zunächst merklich auflockert, was bei dieser flüssigen Inszenierung aber trügerisch ist. Die dämonischen Elemente brechen mit elementarer Gewalt herein, als die von Elena Vitman mit tragfähigem Timbre verkörperte unheimliche Gräfin mit einem jungen Mädchen vorbeikommt, in dem Herman seine Angebetete sofort erkennt. Die gesanglich wunderbar klangfarbenreiche Irina Churilova mimt Lisa, die mit dem Fürsten verlobt ist, den Alexei Markov mit sonorem Bariton verkörpert.
Sehr eindringlich gestaltet Alexei Stepanyuk die Szene in Lisas Zimmer, wo sie sich ihre Zeit mit der Freundin Polina (ausdrucksstark: Yekaterina Sergeyeva) vertreibt. Lisa liebt Herman ebenfalls, der Fürst steht beiden deswegen umso schmerzlicher im Weg. Gerade diesen Aspekt vermag die Inszenierung mit brennender Konzentration herauszuarbeiten. Da steigern sich die Spannungsmomente unaufhörlich, lassen das Publikum nicht mehr zur Ruhe kommen. Herman droht sich schließlich umzubringen, weil Lisa dem Fürsten versprochen ist.
In glanzvollem Goldbrokat-Ton ist dann der zweite Akt gehalten, wo der Fürst Lisa nochmals seine unbedingte Liebe versichert. Der prachtvolle Chor des Mariinsky Theaters preist die Ankunft der Zarin Katharina der Großen, der gesamte Raum weitet sich überaus effektvoll ins Monumentale und Grandiose. Psychologisch fein differenziert stellt diese zwar konservative, aber fantasievolle Inszenierung dann die Begegnung Hermans mit der neunzigjährigen Gräfin dar, der er als Spielsüchtiger das Geheimnis der drei Karten entlocken will. Als er eine Pistole auf sie richtet, bricht die Gräfin tot zusammen. Da besitzt die Aufführung eine erschütternde Schlagkraft, die jede Faser der Zuschauer berührt. Obwohl man auch hier an die unerreichbare Martha Mödl als Gräfin denkt, gelingt es Elena Vitman sehr überzeugend, die zuletzt unwillige Greisin präsent werden zu lassen. Sie stößt Herman von sich. In gespenstischer Weise erhebt sich die tote Gräfin plötzlich, der Raum verändert sich wieder – und Herman trifft in heftiger Art mit Lisa zusammen, die ihm die Tür weist. Dies alles gelingt dem Regisseur Alexei Stepanyuk mit unnachahmlicher Intensität und genauem Beobachtungssinn. So konservativ die Inszenierung in vielen Details ist, so modern wirkt sie in den differenzierten Beziehungskonstellationen.
Dies zeigt sich insbesondere im sehr düster gehaltenen dritten Akt, wo Lisa einen weiteren Beweis von Hermans Liebe fordert. Aber die Gräfin fährt (im Bett liegend) als Gespenst dazwischen und beschwört den Unglücklichen, Lisa zu heiraten – dann würde sie ihm das Geheimnis der drei Karten verraten. Lisa stürzt sich zuletzt ins Wasser, als sie begreift, dass er die Schuld am Tod der Gräfin trägt. In der Spielbank kommt es noch einmal zu einer starken Szene mit dem Chor und dem Fürsten. Herman zieht kein Ass, sondern die Pique Dame, was ihn in den Tod treibt. Rhythmisch erreicht Alexei Stepanyuk hier eine völlige Verschmelzung mit der szenischen Bewegung, was sich auch auf die Musik überträgt.
Zu loben sind ferner die überaus einfallsreichen Kostüme von Irina Cherednikova (Choreographie: Ilya Ustyantsev). Der Dirigent Valery Gergiev bringt die bizarren Färbungen und „Suchtbeschreibungen“ der Partitur Tschaikowskys in eindrucksvoller Weise zur Geltung. Die Gradlinigkeit und der Kontrastreichtum der Handlung korrespondiert dabei mit den ergreifenden kontrapunktischen Prozessen in der Musik. Sinfonisch wird der Leitgedanke präsentiert, die Idee der Kollision des Menschen mit seinem Schicksal steht für Valery Gergiev stets im Zentrum des Geschehens. Das Schicksalthema und das Thema der Liebe blühen im Orchestervorspiel in unendlichen Melodien auf. Das Thema der drei Karten erinnert zudem sehr deutlich an die Melodie der Tomski-Ballade. Der sinfonisch-dramatische Entwicklungsprozess wird dann bei Hermans Arioso „Den Namen kann ich dir nicht nennen“ von Mikhail Vekua auf die Spitze getrieben. Man begreift, dass Hermans leidenschaftliche Liebe bereits den Keim der Zerstörung durch den späteren Karten-Wahn in sich trägt. Das Karten-Thema bricht bei dieser Aufführung auch bei Lisa mit zerstörerischer Gewalt ein, besonders in ihrem verzweifelten Ausbruch nach der Erkenntnis „So ist es Wahrheit…“ Im Schlafgemach der Gräfin im vierten Bild explodiert das Drama regelrecht, denn hier entscheidet sich das Geschick der beiden durch verhängnisvolle Mächte miteinander verbundenen Personen Herman und Gräfin. Und die konzentrierte Verdichtung der musikalisch-thematischen Entwicklung gelingt Valery Gergiev hier mit dem Orchester des Mariinsky Theaters am besten. Sehr gut verdeuchtlicht Valery Gergiev weiterhin, wie sich das Schicksalsthema durch die gesamte Oper zieht. Es macht sich auch bei den ariosen Episoden der Sänger bemerkbar. Bewegte Genre-Szenen wie der Chor der Kinder wechseln sich immer wieder mit scheinbaren Ruhepunkten wie dem elegischen Duett Linas mit Polinas ab. Den Triumph der Liebe über den unermesslichen Reichtum des Zarenhofes gestaltet Alexei Stepanyuk in seiner Inszenierung allerdings trügerisch. Diese Gesellschaft ist nicht bereit, die freie Entscheidung eines Menschen wie Lisa auch nur ansatzweise zu dulden. Wie präzis Tschaikowsky jeden Tempowechsel und jede dynamische Nuance festgelegt hat, kommt bei der Aufführung ebenfalls leuchtkräftig zum Vorschein. Die Orchesterglocken imitieren einmal sogar den Klang der Kirchenglocken – dieser Klang verfinstert sich. Die Anklänge an Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzerte oder an den russischen Komponisten Dmitri Bortnjanski werden von Gergiev keineswegs überzeichnet, sondern dezent und transparent betont. Der Geist der alten Gräfin meldet sich im dritten Akt aus Hermans Unterbewusstsein – eine sehr plastische Szene, die sich tief einprägt. Das aus drei Noten bestehende ganztönige Motiv von dem Geheimnis der drei Karten bohrt sich regelrecht in den Orchestergraben In vielen Phrasierungen und naturalistischen Szenen unterstreicht Valery Gergiev ganz bewusst den Geist der Musik des 18. Jahrhunderts. Eine Ariette aus Gretrys „Richard Löwenherz“ charakterisiert beim Sterben der Gräfin das erlöschende Rokoko. Da kommt es dann zu merkwürdigen Kontrasten des Klangbildes. Und die Steigerung des ersten Bildes vom harmlosen Spaziergänger-Idyll bis zum Aufruhr der Elemente und Leidenschaften übt auf die Zuschauer eine starke Wirkung aus. Auch die Einflüsse russischer Volks- und Kirchenlieder hört man heraus. In weiteren Rollen fesseln Nikolai Kamensky als Narumow, Lyudmila Dudinova als Mascha, Andrei Zorin als Zeremonienmeister und Yekaterina Krapivina als Gouvernante. Im Intermezzo stechen Anna Denisova (Prilepa, Chloe), Yekaterina Sergeyeva (Milowsor, Daphnis) und Roman Burdenko (Slatogor, Plutus) hervor. Valeria Karpina stellt in einer stummen Rolle eindringlich das Schicksal dar. Für das gesamte Ensemble gab es begeisterten Schlussbeifall. Es ist eine Inszenierung, die kaum Schwachstellen aufweist und die in ihrer Plastizität das Publikum ungemein fasziniert. Außerdem vermag Alexander Sivaev die Lichteffekte magisch zu steuern.
Diese Deutschlandpremiere der Originalfassung setzt in jedem Fall einen Meilenstein im Opernrepertoire. Die Pfahlstützen der sumpfigen Newa-Mündung und die gewaltigen Säulen St. Petersburgs feiern den 125. Geburtstag dieses Meisterwerks in einmaliger Weise.
Alexander Walther