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BADEN-BADEN/ Festspiele: ANNA KARENINA – Gastspiel des Hamburg-Balletts

Zu viel gewollt, aber doch viel erreicht

15.10.2018 | Ballett/Performance


Aufkeimende Leidenschaft. Anna Laudere (Anna) und Edvin Revazov (Wronski). Copyright: Kiran West

Festspiele Baden-Baden

Gastspiel des Hamburg Balletts mit

„ANNA KARENINA“ 13.10.2018 – Zu viel gewollt, aber doch viel erreicht

Zugegeben: Leo Tolstois 1878 edierter epischer Roman ist mit seinen vielfältigen Handlungssträngen und der darin verknüpften Themenvielfalt so umfangreich, dass sich generell die Frage stellt, wie dies in einer einigermaßen komprimierten Form innerhalb von wenigen Stunden auf die Bühne gebracht werden kann.

Boris Eifman hat in seiner Choreographie z.B. gezeigt, wie sich die Geschichte in verschlankt klassischem Gewand, d.h. aus dem Geist von Tolstois Gegenwart mit ihren damals viel weiter reichenden gesellschaftlichen Schranken in geschickt ausgewählten Szenen konzentriert auf das Dreiecksverhältnis der Titelheldin mit ihrem Mann und ihrem Geliebten verständlich und emotional direkt umsetzen lässt.

John Neumeier hat sich für die Gegenwart entschieden, obwohl er als einzigen Bezug zu unserer Zeit Karenins Installierung als bedeutender Politiker anführt, der zu Beginn der Aufführung von seinen Anhängern mit vielen Wahlplakaten gefeiert und mit Frau und Sohn im Blitzlichtgewitter der Presse gezeigt wird, weshalb die Affäre seiner Frau in seiner öffentlichen Stellung einen größeren Affront darstellt als für seine private Beziehung. Carsten Jung, langjähriger Erster Solist der Compagnie verleiht ihm in diesem Zwiespalt kraft seiner Persönlichkeit und seines Charismas hohe Glaubwürdigkeit. Leider hat ihm Neumeier nur wenige Szenen anvertraut und stattdessen einer Figur mehr Raum gegeben, die zwar im Roman erwähnt wird, deren Funktion aber bei der ersten Begegnung in der Choreographie nicht zwingend genug erscheint und zum rätselhaften Mittelpunkt gerät. Es ist ein Arbeiter, an dessen tödlichem Unfall Anna unmittelbar vor dem ersten Aufeinandertreffen mit Wronski Zeuge wird, und der ihr wie ein böses Omen durch ihre Träume folgt. Da er irritierenderweise wie im Selbstgespräch mitten in die Musik hinein Französisch redet, der damaligen Sprache der russischen Aristokratie, deutet ihn Neumeier als „gefallenen“ Vertreter dieses Standes. Es könnte also genauso gut ihr Mann oder auch der gräfliche Liebhaber sein, weshalb beide kurz vor Annas Tod in derselben Uniform des Arbeiters erscheinen. Solcherlei Querbezüge leitet der Choreograph aus der vielseitigen Schilderung des Romans aus dem Unterbewusstsein der Protagonisten ab. Daraus entspringt letztendlich auch Annas Pas de deux mit dem Arbeiter, der aufgrund der Expressivität von Karen Azatyan zum dramatischen Knüller wird. Und nicht ein Solo, in dem sich der innere Druck Annas bis zum Selbstmord-Entschluss zuspitzen könnte. Zumal für die Bühne wäre so etwas spannender gewesen als ihr fast unmittelbarer Tod durch ein kurzes Aufblitzen eines Feuerzeugs und das Versinken im Bühnenboden. Dieser alte Theatertrick mag zu der sonst so innovativen Herangehensweise Neumeiers gar nicht passen. Anstatt dem Gefühlskonflikt in bezwingenderen Pas de deux mit Mann und Liebhaber mehr Entfaltung zu geben, wird die Aufmerksamkeit mehr auf zwei weitere Paare gelenkt.


Unbeschwertes Glück. Anna Laudere (Anna) und Edvin Revazov (Wronski). Copyright: Kiran West

Zum einen die gegensätzlich ausgerichtete Ehe von Annas Bruder Stiva, den Dario Franconi als durchaus sympathischen Schürzenjäger mit schnittigem Körpereinsatz darstellt. Seine Frau Dolly, die sich nur durch das Drängen ihrer Kinder nicht von ihm trennt, gestaltet Patricia Friza als aufrichtige Frau, die bei der Abweisung Annas durch die Gesellschaft als Einzige zu ihr hält. Zwei in ihrem Dilemma fast spiegelbildliche Frauenbilder. Noch mehr Gewicht erhält Dollys Schwester Kitty, die zunächst mit Wronski liiert ist, nach dem Bruch in der Nervenheilanstalt landet, ehe sie von dem sie verehrenden Bauern Lewin (bei Tolstoi ein adeliger Großgrundbesitzer) für ein neues Leben an seiner Seite auf dem Lande gerettet wird. Emilie Mazon zeichnet sie überzeugend als zuerst leichtfertiges, etwas naives Mädchen mit federleichtem Bewegungshabitus, das sich zur leidenschaftlichen Landwirtin auf dem Traktor entwickelt. Aleix Martinez schafft als träumerischer, in seinem Verhalten etwas linkisch und unbeholfen geschilderter Lewin sogar etwas heiter unbeschwerten Kontrast zum übrigen Geschehen. Er, der fast seine Trauung verschläft, wird zum Publikumsfavoriten. Auch musikalisch hebt sich seine Welt mit Cat Stevens-Songs ganz von den Schicksalen der anderen ab. Die öffentlichen Szenen sind größtenteils von Tschaikowskys feierlich pompösen oder eleganten Kompositionen bestimmt, die Phasen des Traums und des Unterbewusstseins sind durch Alfred Schnittkes atonal geweitete Strukturen akustisch passend verstörend und aufreibend gekennzeichnet. Die Deutsche Radio-Philharmonie Saarbrücken-Kaiserslautern geben diesen theatergerechten Klangwelten unter der Leitung von Simon Hewett hinreichend dichten Ausdruck und struktur-klare Präzision.

In der Titelrolle behauptet sich Anna Laudere, wiewohl ihre Beziehung zu den beiden Männern hätte choreographisch substanzieller ausgelotet werden können, als stille Größe mit eindringlicher Körpersprache und den technisch wesentlichen Fähigkeiten einer versierten Tanzgestalterin, die Grenzen zwischen Lyrik und Dramatik verwischend. Zudem macht sie in den ausschließlich für ihre Rolle entworfenen Kostümen des Modeschöpfers Albert Kriemler gute Figur. Edvin Revazov gibt Wronski allein durch seine große athletische Erscheinung mit halblang wehendem Blondhaar so viel Profil, dass ein gewisses Defizit an Leidenschaft ausgeglichen wurde. Das von ihm und seinen Kameraden auf offener Bühne trainierte Kräfte fordernde Lacrosse-Spiel (anstatt des ursprünglichen Pferderenn-Reitens) gehört selbst in Neumeiers ungemein vielschichtiger stilistischer Verarbeitung aus der Klassik geborener und erweiterter Tanzstile wie auch so manch parallel ablaufende Vorgänge zu den Fremdkörpern, die sich vielleicht  aus Spuren des Romans ableiten lassen, aber das Auge verwirren und überfordern. Stark aufgewertet ist die Rolle von Annas Sohn Serjoscha, für dessen einerseits kindliches Gebaren Maria Huguet (man könnte sie glatt für einen Jungen halten) schon zu erwachsen ist, andererseits aber das Verhältnis zu den Eltern mit tänzerischen Mitteln weitreichender formulieren kann. Etwas seltsam mutet allerdings die Szene an, in der Serjoscha der Mutter unters Kleid greift und sie auf die Schultern erhebt  Da wird doch nicht…?

In weiteren Solo-Rollen sind noch Greta Jörgens als erhabene Prinzessin Sorokina (der sich Wronski gegen Ende zuwendet) und Georgina Hills als von Stiva im Ehebett verführtes Kindermädchen zu erwähnen. Seinen Corps de ballet-Tänzern hat Neumeier selbstredend wieder vielseitige Entfaltungsmöglichkeiten gegeben und so  dürfen sie sich in den eigens von ihm entworfenen Gewändern vom Sport-Dress bis zur Abendrobe als Gesellschaft, Volk, Reisende am Bahnhof ( einziges Symbol dafür ist eine mehrfach an der Rampe auf- und abfahrende Spielzeug-Eisenbahn), Sportler, Bauern, Dienstpersonal etc. in unterschiedlichster bewegungstechnischer Ausrichtung präsentieren.

Der schnell verwandelbare Bühnenraum mit fahrbaren und teilbaren Wänden, die mal mit Türen versehen sind, wechselnde Hintergrund-Prospekte wie einen Wolkenhimmel oder die Mondkugel freigeben, trägt zum nahtlosen Übergang der verschiedenen Szenen in unterschiedlichen Welten bei und sorgt für einen fließenden Ablauf aller Ereignisse, auch wenn ihn zeitlupenhafte Momente immer mal wieder entschleunigen.

Neumeiers so unglaublich variantenreicher Umgang mit klassischen und modernen Tanzstilen verschafft auch dieser dramaturgisch etwas überfrachteten und durch die Vergegenwärtigung etwas arg entfremdet und beliebig werdenden Geschichte einen Erfolg, so dass nicht nur die verdienten Tänzer, sondern auch er von einem inzwischen anhängerstarken Publikum, das zu den schon traditionell gewordenen Herbst-Tourneen des Hamburg Balletts nach Baden-Baden kommt, lautstark und mit stehenden Ovationen gefeiert werden.

 Udo Klebes

 

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