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BAD WILDBAD / ROSSINI IN WILDBAD: PETITE MESSE SOLENNELLE und CAÏN

Uraufführung von Francesco Carluccio

25.07.2018 | Konzert/Liederabende


Foto: Werner Häußner

BAD WILDBAD / ROSSINI IN WILDBAD: PETITE MESSE SOLENNELLE und CAÏN (Uraufführung von Francesco Carluccio)
am 24.7.2018

Ein stringentes Argument, Gioachino Rossinis „Petite Messe Solennelle“ den religiösen Ernst abzusprechen, gibt es nicht. Dennoch steht die letzte groß angelegte Komposition des „Schwans von Pesaro“, 1864 zur Einweihung einer privaten Kapelle uraufgeführt, bis heute unter religiösem Vorbehalt. Keinem Domkapellmeister würde es wohl einfallen, mit der Messe an einem hohen Feiertag die katholische Eucharistiefeier zu gestalten.

Dennoch: Rossinis geistliches Meisterwerk ist nicht frömmer oder weniger fromm als Bachs h-Moll-Messe, und von Musik auf den Glauben eines Komponisten zurückzuschließen, ist selbst im Falle der allerchristlichsten Meister, ob Bach oder Palestrina, ein höchst problematisches Verfahren: Man kann ein „Et incarnatus est“ musikalisch so ernsthaft und theologisch richtig wie nur irgend möglich gestalten und muss dennoch so wenig daran glauben wie Giuseppe Verdi an Schwindsucht litt, als er die ergreifenden Melodien zu den Abschiedsworten von Violetta in „La Traviata“ aufs Notenpapier schrieb.

Was bleibt, ist die Kunst, durch Musik den Zuhörer zu erreichen und den vertonten Worten Sinn und Bedeutung zu geben. Und in diesem Punkt muss sich Rossini keinen Vorwurf gefallen lassen. So humorvoll er in seinem Vorwort mit dem Wortspiel „musique sacrée“ (geistliche Musik) – sacrée musique (verfluchte Musik) jongliert, so witzig er dem Credo die Anweisung „Allegro cristiano“ beigibt: Die Komposition trägt keine ironischen Züge, und dort, wo die Musik kantabel, glanzvoll und blühend ist, muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass zwischen „heiter“ und „lustig“ ein tiefer Graben klafft: Der Ausdruck eines unvergrübelten, heiteren Glaubens – soll der im geistlichen Geklinge verpönt sein? Dann wären Haydn, Mozart und die italienische geistliche Musik ihrer Zeit alle falsch oder würden in den Vorhof des Teufels gehören – wie ihnen so manch strenger Kirchenmusiker sicherlich gerne vorgeworfen hätte.

Rossini zeigt sich jedenfalls in seiner Messe der älteren Choraltradition bewusst, so wie er offenbar auch durch das Studium Johann Sebastian Bachs angeregt wurde. Richard Osborne entdeckt in der „Petite Messe Solennelle“ verblüffend neuartige Züge, die auf die spätere geistliche Musik eines Gabriel Fauré und sogar Francis Poulenc vorausweisen. Das Festival „Rossini in Wildbad“ ließ gerade diesen modernen Aspekt deutlich vernehmen, weil der ungewöhnliche Aufführungsort, ein Aussichtsturm am Ende eines Baumwipfelpfads, jeden Nachhall unmöglich macht und die Musik Rossinis erbarmungslos trocken-analytisch erklingen lässt.

Hoch über den Tannen- und Fichten des Schwarzwaldes, mit dem sanften Orange, Rosa und Rot eines Sonnenuntergangs als Kulisse und später im Silberglanz eines für „Norma“ geeigneten, annähernd vollen Mondes, verweht Rossinis raffinierte Harmonik nicht in der Weite, wird auch nicht von warm bergender Akustik eingehüllt, sondern steht offen und frei für sich selbst ein. Das ist nur für den Chor nachteilig, dessen Stimmen sich nicht mischen können. Aber der polnische Górecki Chamber Choir (Leitung: Mateusz Prendota) nutzt die Schutzlosigkeit, um gerade in der Polyphonie offen zu legen, wie subtil und gekonnt Rossini die Stimmen führt. Dass im einen oder anderen Moment die Kraft und Spannung der Phrasierung fehlt oder den Sopranen manch kräftiges Vibrato unterläuft, wäre in einem Konzertsaal nicht so deutlich geworden.

Zu erkennen ist auch, wie der Chor am Ausdruck feilt: Die feinen dynamischen Nuancen des Kyrie beeindrucken ebenso wie die Ausgewogenheit des „Christe eleison“, das Rossini – ohne es zu vermerken – einer Messe solennelle Louis Niedermeyers entnommen hat. Zu Ehren seines 1861 verstorbenen Schweizer Freundes hatte Rossini 1862 das vierstimmige Kyrie komponiert, in dessen Mitte er Niedermeyers in strengem, doppeltem Kontrapunkt gehaltene Stück eingefügt hat: Aus dem „Et incarnatus“ dieser Messe wurde nun – theologisch folgerichtig mit Bezug auf Christus, das Fleisch gewordene Wort Gottes – das „Christe eleison“.

Im Credo gestaltet der Chor die Auferstehungsbotschaft „Et resurrexit“ als hymnisches Bekenntnis, versucht sich aber in der abschließenden Doppelfuge zurückzunehmen, um das überraschende „Credo“ am Ende noch einmal mit voller Kraft herauszustellen. Das Sanctus ist kein Jubelhymnus, sondern ein diskretes Lob mit einem tröstlichen Benedictus. Und der Mars leuchtet hell am Himmel, als der Chor in sanftem Pianissimo „Dona nobis pacem“ formuliert: Die Bitte um Frieden als Kontrast zum strahlenden Planeten, der den Namen des antiken Kriegsgotts trägt.

Im Gloria zeigt Baurzhan Anderzhanov, Ensemblemitglied des Aalto-Theaters Essen, dass er inzwischen zu den führenden Rossini-Stimmen seines Fachs gezählt werden darf: Nobel und verhalten im „Gratias agimus“, kantabel und beherrscht im Ton in seinem Solo, dem „Quoniam tu solus sanctus“ mit seiner fordernden Höhe auf „Jesus Christus“. Marina Comparato ergänzt ihn mit weich geführtem Alt und zeigt glanzvolle solistische Momente im Agnus Dei: Man hört, dass Rossini für einen führenden Contralto seiner Zeit, Barbara Marchisio, schreiben konnte. Silvia Dalla Benetta tritt im „Qui tollis“ hinzu – einem jener Frauenduette, die Rossini auch in seinen Opern als magische Höhepunkte zu gestalten verstand; seine glühende Schönheit und das flehende „Miserere“ erinnern unverkennbar an die verzückte Melancholie in seinen Seria-Opern.

Mert Süngü hat mit dem „Domine Deus“ eine dankbare Solo-Nummer, die nicht an den melodischen Schwung des „Cujus animam“ aus dem „Stabat mater“ heranreichen will, aber in seinem Wechsel von Arioso und Marcato („Rex caelestis“) expressiv geschärft gesungen werden soll. Süngüs Tenor flackert leicht – er sollte sich zwei Tage später wegen einer Kehlkopfentzündung ansagen lassen – und erreicht den Hochton („unigenite“) nicht ohne Mühe.

Mit Antonino Fogliani leitet ein Dirigent die Aufführung, der sich auch mit diesem Stück für das Festival unendliche Meriten verdient hat; am Klavier sorgt Michele D’Elia für das rhythmische Gerüst, die Haltepunkte in der Polyphonie und ein ausdrucksvolles „Prélude religieux“, unterstützt von Gian Luca Ascheri am zweiten Flügel. Angelica Giannetto Fogliani hat am Harmonium eine undankbare Aufgabe, da der Klang des zarten Instruments unter freiem Himmel verweht und höchstens hin und wieder als zarte Farbe im Hintergrund vernehmbar ist.

Vor Rossinis Messe wurde eine „Oratoriumsszene“ des in Bologna lehrenden Francesco Carluccio uraufgeführt. Allerdings enthält das Programmheft nicht einmal den –schwer zugänglichen – Text von Gérard de Nerval und beschränkt sich bei den musikalischen Hinweisen auf ein kurzes Interview und zwei für sich genommen wenig aussagekräftige Notenbeispiele. Es geht um die biblische Figur des Caïn, der dem rund viertelstündigen Werk auch den Titel gibt. Zur Figur des Urvaters der Menschheit, Adam (Xiang Xu), tritt Tubal-Caïn aus dem vierten Buch Genesis, ein Metallurg und Schmied, sowie Soliman (Salomon?; Roberto Maietta) und der Steuereintreiber Adoniram (Matija Meić) aus der Zeit Davids und Salomons.

Trotz des stimmgewaltigen Bassbaritons Yevgeny Chainikov und des deutlich deklamierenden Tenors Caner Akin in der Titelrolle bleiben Sinn und Inhalt der Szene rätselhaft, auch der vom Intendanten des Festivals, Jochen Schönleber, gesprochene Eingangstext mit seinem apokalyptischen Bild einer Menschen tötenden Sintflut aus geschmolzener Bronze führt nicht weiter. So bleibt nur, der freundlich konturenarm dahinplätschernden, gut singbaren Musik Carluccios zuzuhören – was schnell in bloßes Warten auf Rossini umschlägt. Schade, denn solche Uraufführungen durchbrechen den Blick zurück, zu dem das Festival seine Widmung vorderhand zu verpflichten scheint.

 

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