BAD WILDBAD / Rossini in Wildbad: ERMIONE
23.7.2022 (Werner Häußner)
Moises Marin, Serena Farnocchia. Foto: Theater Pfeiffer Foto-design
Gioachino Rossinis „Ermione“ war im Neapel des Jahres 1819 kein Erfolg. „Ich fürchte, der Stoff ist zu tragisch“, bekannte der Komponist selbst – und sollte recht behalten. Was Librettist Andrea Leone Tottola für den experimentierlustigen Star des europäischen Musiklebens gefertigt hatte, übertraf in seiner Radikalität sogar die Vorlage, eine düstere Tragödie Jean Racines. „Liebe“ ist in der antiken Erzählung vom Schicksal Andromaches, der Witwe des trojanischen Helden Hektor, zu nacktem Begehren degeneriert. Sie verwandelt sich in furiose Rache oder verkümmert zum Funken, der einen emotionalen Feuerbrand entfacht, genährt aus ungebändigter Gier, furchtbarer Enttäuschung, trostloser Abhängigkeit.
Amor ist ein Dämon, der die Menschen zerbricht. Als Opfer seiner grausamen Macht verstricken sie sich in ihrer inneren Zerrissenheit, werden blind für die Verletzungen, die sie einander zufügen, enden in Tod, Wahnsinn, Verzweiflung. Die Hoffnung, dass Amor der Seele Glück und Frieden bringe, ist eine trügerische, sagt Agamemnons Sohn Orest, der am Hof von Pirro (Pyrrhus), König von Epirus, seine große Liebe Ermione wiedertrifft. Wohl nicht grundlos ist das Werk als „azione tragica“ bezeichnet: Rossini geht auch in der Musik ungewöhnliche Wege, die das Publikum vor 200 Jahren gehörig befremdet haben dürften.
Schon die szenische deutsche Erstaufführung 2016 in Rostock hat das Potenzial dieser Rossini-Oper freigelegt – leider ohne Folgen in der deutschen Musiktheaterlandschaft. Jetzt hat sich „Rossini in Wildbad“ erneut mit „Ermione“ beschäftigt und bestätigt, dass eine szenische Aufführung über die Musik hinaus lohnt. Jochen Schönleber, inszenierender Intendant des Festivals, setzt die beschränkten Möglichkeiten der kargen Bühne der Trinkhalle geschickt ein: Drei Würfel markieren die Schicksalsmacht Amors, dienen auch als Projektionskörper, auf denen schattenhafte Schemen erscheinen, wenn der Chor in der Ouvertüre das Schicksal Trojas beklagt – ein bis dato unerhörtes musikalisches Stilmittel von heute noch ergreifender Wirkung.
Zwei kleinere Würfel im Zentrum der Bühne dienen unter anderem als Thronsitze; der Hintergrund ist offen und lässt den Blick auf (Farb-)projektionen von Ada Bystrczycka frei. Dass Schönleber seine Figuren oft an die Wandflächen presst, ist nicht nur den Platzverhältnissen geschuldet: Diese Menschen agieren mit dem Rücken zur Wand. Konzentriert auf die emotionalen Exzesse, gelingen der Regie Momente eindringlicher Dichte. Ohne spektakuläre Aktionen – für die jede Möglichkeit fehlt – unterstreicht Schönleber auf seiner selbst gestalteten Bühne auf diese Weise die expressive Wirkung der Musik.
Dafür hat er eine Crew von Sängern engagieren können, die durchweg dem Anspruch von Rossinis Komposition gerecht werden. In der für Rossinis spätere Gattin Isabella Colbran geschriebenen Titelpartie zeigt sich Serena Farnocchia den Seelenstürmen der spartanischen Prinzessin gewachsen, die erdulden muss, wie ihre Liebe zu Pirro abgewiesen und in einem infamen Kalkül instrumentalisiert wird, damit der König von Epirus sein Ziel erreicht, Hektors Witwe Andromache an sich zu binden. Ihre unheilbar verletzte Seele singt sich hemmungslos aus in expressiver Dramatik, aber auch in den Girlanden und Perlenpassagen virtuoser Koloraturen. Farnocchia löst diesen Anspruch ein mit einer anfangs nur verschattet fokussierten Tongebung, später aber mit immer souveränerer technischer Bewältigung und immensem Ausdrucks-Ehrgeiz.
Ihre unfreiwillige Rivalin Andromaca ist die einzige Person, die im Bangen um ihren Sohn Astianatte (Astyanax) in der Auftritts-Cavatina „Mia delizia!“ eine zärtliche Liebe äußert. Aurora Faggioli setzt dafür einen dunklen, plastischen, anfangs noch etwas von Vibrato belasteten Contralto ein, mit dem sie jedoch die Nuancen zwischen schimmerndem Mezzoforte und sanftem Pianissimo in sprichwörtlichem Wohllaut ausformen kann. Moisés Marín bewältigt die herausfordernde Partie des Königs Pirro mit Bravour: Ein Mann, der über jeden Selbstzweifel erhaben eine Spur der Verwüstung in die Seelen seiner Mitmenschen eingräbt und eine Verzweiflung entfacht, die ihm ein blutiges Ende bereitet.
Marín hat den entspannt-brillanten Ton des Selbstbewusstseins, die lyrische Melancholie, wenn er sich für einen Moment nach innerer Ruhe sehnt, aber auch den variablen Ton, wenn er im ersten Finale in einer für alle überraschenden Kehrtwendung Ermione Herz und Hand bietet, nur um beim ersten Zeichen eines Einlenkens von Andromaca alles wieder umzuwerfen: ein demütigendes Würfelspiel, das Ermione in eine Rachefurie verwandelt.
Instrument ihrer Vergeltung ist Oreste, in dem sich der Konflikt von Pflicht und Liebe bis zum Exzess radikalisiert wiederfindet: Als politischer Gesandter soll er dafür sorgen, dass Astyanax, letzter männlicher Spross des trojanischen Herrscherhauses und als solcher eine Gefahr für die Griechen, neutralisiert wird. Sein Freund Pilade – zuverlässig und klangvoll gesungen von Chuan Wang – scheitert daran, Oreste an seine diplomatische Mission zu erinnern: Das Begehren, beim Anblick Ermiones neu entfacht, ist stärker und lässt ihn am Ende zum besinnungslosen Werkzeug mordlüsterner Rachsucht werden.
Patrick Kabongos kristallin strahlender Tenor passt zur grellen Verzweiflung Orestes, die er mit traumsicherer Höhenattacke und dramatischer Verve aussingt. In den kunstvoll verwobenen Ensembles – im ersten Finale schon auf Donizetti vorausweisend – leisten auch die Sänger der zweiten Reihe sorgfältig gestaltete Beiträge: Jusung Gabriel Park (Fenicio), Mariana Poltorak (Cleone) Katarzyna Guran (Cefisa) und Bartosz Jankowski als schlankstimmiger Attalo.
Dass die Sänger über nicht unerhebliche Passagen angespannt und oft überflüssig laut intonieren, dürfte dem Orchester geschuldet sein: Antonino Fogliani legt dem Philharmonischen Orchester Krakau keine Zügel an, sondern befeuert immer wieder den kompakten, voluminösen Klang noch, dem zumal in der dumpfen, engen Akustik der alten Trinkhalle trockene Eleganz, federnde rhythmische Zuspitzung und dynamische Differenzierung abgehen. Solch wuchtige Schwerarbeit raubt den Rossini’schen Crescendi ihre Wirkung und das mechanische Metrum, das Fogliani in atemloser Akkuratesse pflegt, passt zwar im maschinellen Drive des letzten Ouvertüren-Abschnitts, nicht aber in den Ensembles, in denen Fogliani das Pulsieren der Musik ignoriert und die Crescendi so laut ansetzt, dass sie keine Chance haben, sich bis zu den krachenden Tutti-Akkorden effektvoll zu steigern.
Werner Häußner