BAD WILDBAD / Festival „Rossini in Wildbad“: MASANIELLO von MICHELE CARAFA – Moderne Erstaufführung
19.7.2024 (Werner Häußner)
Hätte es Daniel François Esprit Aubers „La muette de Portici“ nicht gegeben – wer weiß, ob nicht Michele Carafas „Masaniello“ anno 1830 den revolutionären Protest in Brüssel ausgelöst hätte, der letzten Endes zur Loslösung Belgiens von den Niederlanden geführt hat. Aubers Grand opéra hat damit – ungeachtet ihres wechselvollen Schicksals zumal auf der modernen Bühne – Unsterblichkeit errungen. Das „drame historique“ des Michele Enrico Francesco Carafa di Colobrano dagegen ist vergessen.
Dass es höchste Zeit ist, dieses gattungsmäßig der „opéra comique“ nahestehende vieraktige Werk wieder zu entdecken, legt die konzertante Erstaufführung in modernen Zeiten beim Festival „Rossini in Wildbad“ – vermutlich die erste seit 1882 – eindrucksvoll nahe. Denn ihr Text ist nicht nur näher am historischen Geschehen des neapolitanischen Fischeraufstands von 1647 und an seinem Protagonisten Tommaso Aniello („Masaniello“). Er behandelt auch trotz erheblicher Zensureingriffe das Thema des Widerstands gegen die ungerechte Staatsgewalt wesentlich unverblümter als das meisterliche, aber diplomatischere Libretto Eugène Scribes für Aubers Oper.
Den Vorteil sichert sich Auber mit der Form der „Grand opéra“: Und zwar nicht in spektakulären Effekten wie dem finalen Ausbruch des Vesuvs – den nutzt Carafa auch –, sondern in der Breite der künstlerischen Mittel. Der Kniff, mit Fenella, der Schwester Masaniellos, eine stumme Person als Hauptrolle einzuführen, öffnet die Oper hin zu Pantomime und Tanz und ermöglicht, das Publikum mit einer anrührenden Rolle emotional zu verzaubern. Dagegen ist Léona, die Ehefrau Masaniellos in Carafas Version, ein eher blasser Charakter, trotz ihrer Rolle im Zentrum einer allzu komplizierten Liebes- und Eifersuchtsintrige im zweiten Akt. Doch den revolutionären Schwung der „Muette de Portici“ löst nicht die vom Politischen ins Private gewendete Story der vergewaltigten und entführten Fenella aus. Ihn erzeugt Aubers Musik mit ihren zweideutigen Barcarolen und melodisch suggestiven Märschen, ihrem Marseillaise-Zitat und ihren trotzigen Chören.
Bei Carafas Librettisten Charles-François-Jean-Baptiste Moreau und Ange-Martial Lafortelle ist das anders. Das gewagte politische Drama behält seine Konturen. Auch Carafa schreibt reizvolle Melodien und legt sie seinen Protagonisten singfreundlich in die Kehle, aber seine gemütvoll-folkloristischen Barcarolen haben trotz ihres pointierten Rhythmus‘ etwas Behäbiges – ziemlich entfernt von Aubers angespannter Musik. Doch am Ende des ersten Akts begleitet die losziehenden Aufständischen ein fulminanter Ohrwurm-Marsch, der die Brüsseler ähnlich wie Aubers hitziger Elan hätte entflammen können. Den zweiten Akt beschließt Carafa mit einem erregten Finale; im vierten gewinnt die Person des Masaniello mit ihrer anbrechenden geistigen Verwirrung in einem subtilen Accompagnato Kontur. In dem Traum, der in Wahnsinn mündet, meint man bereits die Flöte der acht Jahre später entstandenen „Lucia di Lammermoor“ zu vernehmen.
Was jeden Regisseur faszinieren müsste, ist das unverblümt politisch direkte Libretto. Sicher kokettieren die Nebenfiguren Matteo (stimmlich angenehm solide: Juan José Medina) und Thérésia (verlockend: Camilla Carol Farias) mit artig verschleierten schlüpfrigen Anspielungen: Der eine fängt Aale („anguilles“) und junge Mädchen („jeune filles“), die andere legt die Netze listiger Weiblichkeit aus, gewebt aus süßem Lächeln und zarten Blicken. Aber die Not der brutal besteuerten einfachen Menschen wird klar benannt und einer ihrer Urheber musikalisch treffend gestaltet: Der Intrigant Ruffino (mit markantem Bass: Nathanaël Tavernier), ein „heimtückischer und intriganter Genueser“, singt sich mit einer Mischung aus Dulcamara und Jago durch den ersten Akt – ein Manipulator, Denunziant und falscher Berater.
Eine solche Figur will inszeniert sein, und so bedauert man, die Oper Carafas nur konzertant zu erleben. Das ist auch schade, weil die ensemblelastige Musik auf die Interaktion der Bühne zugeschnitten ist und die ausführlichen Dialoge für die politische Dimension der Oper essentiell sind. Sie sind in Bad Wildbad wohl kaum geprobt und werden so fast alle nachlässig gesprochen. Debatten über Steuerprivilegien wirken von der Rampe herab so lasch wie hastig abgelesene wichtige Impulse für die Handlung.
Es bleibt also die Aufgabe, Carafas „Masaniello“ szenisch zu präsentieren. Die Musik lohnt die Mühe allemal. Als Zeitgenosse Rossinis und mit diesem eng befreundet, wurde Carafa oft als Epigone herabgewürdigt. Tatsächlich aber war seine „Gabriella di Vergy“, 1816 für Rossinis spätere Gattin und Primadonna Isabella Colbran geschrieben, wegen der Sterbeszene der Protagonistin auf offener Bühne revolutionär und eine Herausforderung für Rossini. In Bad Wildbad ist trotz der ungeniert auftrumpfenden Szymanowski-Philharmonie Krakau eine versierte Musik zu hören: Carafas Lehrer Cherubini hat deutlichere Spuren hinterlassen als der damalige Operngott Giovanni Simone Mayr; Rossinis Vorbild tritt vernehmbar in der Ouvertüre vors Ohr, aber die Instrumentierung, die Ensembles und die Behandlung der Koloraturen und anderer Verzierungen haben nicht viel gemein mit dem spezifischen Rossini-Ton von Neapel oder Paris. Die Philharmoniker aus Krakau musizieren unter Nicola Pascoli laut und kompakt, mit wenig instrumentaler Detailfreude. Auch der Chor (Piotr Piwko) singt unter Volldampf, ohne sich von Nuancen des Textes irritieren zu lassen.
Anders als der Tenor der Uraufführung, Louis Antoine Ponchard, hat Mert Süngü in Bad Wildbad keine als zu schmal zu bemängelnde Stimme. Er gibt dem Masaniello dramatische Züge, aber Leichtigkeit und Eleganz sind seine Sache nicht. Die Stimme ist rauer geworden; ein bisweilen kehliges Vibrato verrät, dass der Ton nicht präzis fokussiert werden kann und damit auch unsauber gerät. Der zweite Tenor Luis Magallanes zeigt als übler Steuereintreiber Calatravio zunächst einen festen, grellen Ton, den er später in seiner zweiten Rolle als Graf von Torellas geschmeidiger zu formen weiß.
Nathanaël Tavernier könnte als Ruffino den szenischen Bonus der Bösewichter abräumen; in der konzertanten Aufführung bleibt ihm immerhin, mit wendigem Bass Täuschung und Verstellung auszudrücken. Francesco Bossis kühler, steifer Bariton passt zu seiner von Emotionen kaum berührten Rolle als Gouverneur von Neapel (mit erheblichem Sprechanteil). Catherine Trottmann lässt die Kantilenen von Masaniellos Frau Léona blühen, aber die Emission des Klangs gelingt nicht ohne ein unebenes Vibrato. Massimo Frigato muss sich in zwei Nebenrollen mit wenigen undankbaren Einwürfen zufrieden geben.
Fazit: Die nur zwei Monate vor der „Stummen von Portici“ am 27. Dezember 1827 an der Opéra-comique in der Salle Feydeau in Paris uraufgeführte Version des Masaniello-Stoffs rückt den Komponisten Michele Carafa in ein günstiges Licht, bietet eine anregende Alternative zu Aubers Grand opéra und setzt die Serie lohnender Wiederentdeckungen des Festivals „Rossini in Wildbad“ gebührend fort. Die Hoffnung, Carafas Werk in einer adäquaten Inszenierung zu erleben, darf man hegen, ob sie je aufgehen wird, steht auf einem anderen Blatt.