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BAD WILDBAD / Festival „Rossini in Wildbad“: LE COMTE ORY

21.07.2024 | Oper international

BAD WILDBAD / Festival „Rossini in Wildbad“: LE COMTE ORY
20.7.2024 (Werner Häußner)

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Foto: Rossini in Bad Wildbad

Beinahe schon Mainstream ist es, in der Oper queere Geschichten zu erzählen: In Augsburg interpretierte Martin G. Berger schon 2017 Paul Abrahams „Roxy und ihr Wunderteam“ als berührendes Coming-Out eines Fußballers, in Schwerin deutete er Wagners „Tannhäuser“ aufsehenerregend um. In Nürnberg verzauberte Ilaria Lanzino 2023 Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ in eine schwule Liebestragödie. Im neuen Bregenzer „Freischütz“ radikalisiert Philipp Stölzl, was früher schon gelegentlich zu sehen war: Ännchen ist beileibe nicht nur die putzige Gespielin Agathes, sondern geht mit deutlichen Avancen ran. Und gleich darauf läuft im Festspielhaus die nächste umgedeutete Story mit Gioachino Rossinis „Tancredi“ – in Bregenz liest sie Jan Philipp Gloger, künftiger Intendant des Wiener Volkstheaters, als eine lesbische Frau, die sich in einer Macho-Männerwelt behaupten muss.

Naheliegend, dass in Bad Wildbad Intendant Jochen Schönleber als sein eigener Haus- und Hofregisseur den Zug nicht vorbeifahren lässt: Aus „Le Comte Ory“ macht er beim Festival „Rossini in Wildbad“ eine feinsinnig queergedeutete Komödie und konkretisiert damit, was bei Rossini und im Libretto von Eugène Scribe zumindest in nuce verborgen ist. Reto Müller hat in seinem Programmheftartikel erläutert, wie sich die Geschlechteridentifikation der Akteure je nach Perspektive verändert. So kommt es, dass der Page Isolier – den der heterosexuell „gelesene“ Graf Ory als „schönen Jüngling“ bezeichnet – eine Sängerin (also eine Frau) in einer Männerrolle ist, die sich im Terzett vor dem Finale den sexuellen Übergriffen eines als Frau verkleideten Mannes ausgesetzt sieht. Natürlich lässt sich das pikante Durcheinander in einer Zwei-Geschlechter-Logik erklären, aber die Fantasie, sich eine Beziehung oh lá lá auszudenken, ist auch dem Jahr 1828 nicht fremd: Wer das nicht glauben will, möge sich einmal Opern von Auber oder Boieldieu anschauen, die von der Zensur einigermaßen ungerupft geblieben sind.

Schönleber überlässt die Auflösung nicht ganz der Vorstellungskraft. Er schafft im eigenen Bühnenbild einen aparten Lichtraum, in dem er das nächtliche Traumspiel der „nuit obscure“ im Schattenriss inszeniert, dezent explizit, aber mit allem Potenzial erotischer Fantasie. Und indem er Diana Haller als in die Gräfin verliebten Pagen im ersten Akt mit ungenierten weiblichen Formen als „Isolière“ auftreten lässt, verstärkt er den queeren Geschmack der Handlung, ohne allzusehr mit dem Zaunpfahl zu winken. Eine leichtfüßige, manchmal deftig überzeichnende Inszenierung, die dem „Comte Ory“ den altbackenen Touch der schicklich auf Zensurniveau eingependelten Verführungsgeschichte nimmt und die absurden Voraussetzungen so knallig überzieht, dass sie auf einmal (wieder) glaubwürdig und sogar amüsant werden.

Schönleber hat – wie meist in Bad Wildbad – respektable Stimmen versammelt, deren Träger*innen (heute sei der Genderstern gestattet) sich auch auf die Ideen der Regie einlassen. Patrick Kabongo, einer der besten Tenöre in seinem Fach, singt die Titelrolle nicht nur berückend ebenmäßig in der Tongebung selbst extremer Höhen, sondern spielt im ersten Akt einen weißbärtigen Guru aus der Esoterik-Szene der siebziger Jahre so erheiternd linkisch wie im zweiten Akt die unbeholfen auf einem Tisch tanzende „Schwester Colette“ in langem Kleid und weiß schimmerndem Mopp auf‘m Kopp.

Der Erzieher des jungen Grafen Ory, Nathanaël Tavernier, versaut das Täuschungsmanöver im ersten Akt und spielt vorher in seiner Arie die Larmoyanz stimmlich gekonnt aus, mit der er die Last seines schweren Amtes in Leporello-Art in allen Facetten schildert. Diana Haller prunkt mit Volumen und Präsenz ihres Mezzos und setzt die Töne anfangs etwas unscharf, später zunehmend präzis und strahlend an. Fabio Capitanucci hat in seiner Arie „Dans ce lieu solitaire“ eine Glanznummer, in der er mögliche Nuancen arg grob mit gestemmter Kraft überrollt. Sofia Mchedlishvili macht aus der Gräfin Formoutier ein zartes Geschöpf, das aber alles andere als zerbrechlich ist und in vollendet zelebriertem Lamento wie in exaltierten Rouladen ihre Frau zu stehen weiß.

Camilla Carol Farias (Ragonde) und die bezaubernde Yo Otahara als Bauernmädchen Alice tragen kurze Auftritte bei, in denen sie sich vor den „großen“ Rollen nicht verstecken brauchen. Am Pult der Szymanowski-Philharmonie Krakau kommandiert Antonino Fogliani Orchestermusiker wie Chor, lässt im Marsch der Einleitung und in der Gewittermusik des zweiten Akts die Fetzen fliegen, fleht aber auch um dynamische Disziplin und signalisiert, dass man sich unter den Streichern und bei den Bläsern bitte auch um subtiler abgefärbte Töne bemühen möge. Die Folge: Rossinis musikalische Wiederholungs-Dramaturgie gewinnt an Couleur und quirligem Leben. Ein unterhaltsamer Abend mit einem erfrischten Blick auf Rossinis meisterhafte Pariser Oper.

Werner Häußner

 

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