Augsburg – Freilichtbühne am Roten Tor: Puccinis TURANDOT
Premiere am 15.06.2024
Jihyun Cecilia Lee (Liu). Sally du Randt (Turandot). Copyright: Staatstheater Augsburg
Es hätte alles so schön werden können: ein sehr gutes Solisten-Ensemble (bis auf einen Gast aus dem eigenen Haus), ein wunderbarer Chor, verstärkt durch Extrachor und Augsburger Domsingknaben, eine ansprechende Inszenierung und – bis auf die letzten Minuten – gutes Wetter, eine ausverkaufte Arena und doch ein Wermutstropfen, der mir den Abend recht sauer aufstoßen ließ: eine Beschallung in Fußballplatzqualität und ein aufgespaltenes, geteiltes Orchester mit unsichtbarem Dirigenten! Warum?
Der Reihe nach: Augsburg ist arg gebeutelt durch die sich ständig weiter verschiebende Wiedereröffnung seines seit 2016 wegen Sanierung geschlossenen Großen Hauses und einer Freilichtbühne, auf der früher die Oper den Löwenanteil des Spielplanes bestritt, letztmalig im Jahre 2012 mit Wagners FLIEGENDEM HOLLÄNDER. Danach fiel die Entscheidung, dass „Oper“ auf der Freilichtbühne angeblich nicht gehe und man spielte dort vorwiegend Musicals. Ständige Musical-Bespielung hatte ihren Preis: die Bühne rückte immer näher an das Publikum heran, der ursprüngliche Orchestergraben verschwand, der noch beim HOLLÄNDER vorhanden und funktionell in Ordnung war und in dem man auch bereits 2010 die TURANDOT (damals unter Leitung von Dirk Kaftan) gespielt hatte. Die Voraussetzungen für eine Opern-Vorstellung waren also einmal vorhanden. Weshalb man darauf nicht zurück kam, wurde nicht erörtert, stattdessen das Orchester geteilt – links vorn neben der Bühne sah man (teilweise, gedrängt in einen überdachten Gang) Streicher, eine Harfe und wohl auch die Holzbläser und das Schlagwerk (beide Gruppen waren nicht sichtbar), rechts weit außerhalb der Bühne waren die Blechbläser angesiedelt. Dass das keinen Klang ergeben konnte, war offensichtlich auch den Machern klar, und so wurde alles aufgenommen und per Lautsprecher eingespielt (Anm.d.Redaktion: Der Rezensent liefert unten eine Richtigstellung bzw. nähere Erklärung). Abgesehen davon, dass man dann auch gleich eine Schallplatte einlegen könnte, überzeugte das Verfahren durch die mangelhafte Qualität der vorhandenen Lautsprecher nicht, jedenfalls wurde es den akustischen Anforderungen an eine Opernaufführung nicht gerecht. Und aus diesem Grunde war es für mich ein verlorener Abend, denn nach diesem Eindruck die von mir ansonsten sehr geschätzten und in der Vergangenheit oft gelobten Augsburger Philharmoniker zu beurteilen, muss ich mir leider versagen. Allenfalls kann ich konstatieren, dass das Zusammenspiel im Ganzen funktionierte, wenn auch in den vorderen Reihen das Blech (von rechts) in den Lautsprechern regelmäßig zu spät ankam, wodurch man spätestens beim zweiten Mal erst auf die Teilung aufmerksam gemacht wurde. Schade. Herrn GMD Domonkos Héja sah man nie, da er hinter einer Säule stand, das Ganze funktionierte offensichtlich über Fernsehen und tüchtige musikalische Assistenten, die ich denn doch – ihrer Bedeutung wegen – namentlich erwähnen möchte: Volker Hiemeyer, Szilvia Mikó und Michael Wagner.
Gleiche Einschränkung muss zwangsläufig für alle Solisten gelten, die ebenfalls „übertragen“ wurden, was sie allesamt nicht nötig gehabt hätten, wäre eine operngemäße Aufstellung des Orchesters vorhanden gewesen, denn alle haben in den verschiedensten Aufführungen der letzten Jahren ihre hohe Qualität mehrfach und immer wieder bewiesen – allen voran Sally du Randt, die die Turandot bereits 2010 unter Kaftan am gleichen Ort sang und die mit ihrer imponierend-strahlenden Höhe gerade in dieser Partie genau richtig besetzt ist. Einmal mehr beherrscht sie die Bühne, sieht blendend aus und bleibt auch am Schluss die Herrscherin, obwohl Kalaf sie eigentlich besiegt hat. Dieser Kalaf, der einzige Gast, Xavier Moreno, verfügt offensichtlich über einen angenehm dunkel timbrierten Tenor mit guter Höhe – das zu beurteilen muss ich mir, der Umstände wegen, leider versagen. Jihyun Cecilia Lee hat sich längst in die Herzen der Augsburger gesungen, sie sollte nicht vergessen, dass die Liu wohl die große Schwester der Mimi, nicht aber die kleine Schwester der Turandot ist. (Das ist wieder Meckern auf höchstem Niveau, denn ob ihr lyrischer Schmelz zu Herzen gegangen wäre, hätte die Übertragung nicht eine Mini-Turandot daraus gemacht, entzieht sich meiner Kenntnis.) Avtandil Kaspeli verfügt über einen großen, profunden Bass, der gewiss auch ohne Verstärkung eindringlich und überzeugend gewesen wäre. Auch von den drei Ministern Ping, Pang, Pong wissen wir, dass sie über gesunde, gut geführte Stimmen verfügen (Wiard Witholt, Claudio Zazzaro und Roman Poboinyi). Oliver Scherer (Altoun) und László Papp (Mandarin) vervollständigten das Solistenensemble.
Auch Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek hat immer wieder bewiesen, dass sie die schwierigsten Chorpartien sicher und zuverlässig einzustudieren versteht, was auch hier der Fall war. Klanglich und gestalterisch war das Ganze leider nicht einzuordnen – siehe oben!
Intendant und Regisseur André Bücker verzichtete auf das China-Kolorit und entschied sich für eine Märchen- und Wunderebene, die sich auf die menschlichen Konflikte konzentriert. Das gelang im Großen und Ganzen recht gut und war frei vom ideologischen Zeigefinger! (Wohltuend nach seinem verunglückten FIDELIO im vergangenen Jahr.) Weshalb nach 35 Minuten 1. Akt eine Pause von einer halben Stunde sein musste, erschloss sich mir nicht; interessanter hätte ich es gefunden, wenn ein Theater nun (99 Jahre nach der Uraufführung!) den Mut gehabt hätte, das Werk mit Lius Tod ausklingen zu lassen, dort, wo der Tod Puccini den Stift aus der Hand nahm. Denn dieser von Alfano nachkomponierte und von Toscanini gekürzte Schluss stört nicht nur, weil jeder merkt, dass es kein echter Puccini ist, er stört auch – weil Puccini selbst sich nicht darüber im Klaren war, wie Turandot und Kalaf nach Lius ergreifendem Opfer wirklich „zusammen“ kommen könnten. Manchmal gibt es keine Lösung – oder: der liebe Gott hilft, indem er den Komponisten von seinen Qualen erlöst. Das ist nicht nur bei Puccini der Fall, mit Bruckner und seiner IX. Sinfonie verhält es sich ebenso…
Um es noch einmal zu sagen: Oper braucht intime und sensible Gestaltungsmöglichkeiten, das ist ohnehin schwer genug, das ist im Freien noch schwerer. Generationen vor uns haben bewiesen, dass es möglich ist – in einer Zeit, als es die technischen Möglichkeiten von heute überhaupt noch nicht gab! Wenn mittels dieser Möglichkeiten an einzelnen Stellen – und möglichst unmerklich! – etwas unterstützt und nachgeholfen werden kann, wäre es töricht, dies nicht zu tun. Wenn die Tontechnik zum Selbstläufer wird und die Übertragungsqualität den Fußballplatz nicht überbieten kann, bleibt es eine Zumutung! Schade! Schade! Schade!
Werner P. Seiferth
Richtigstellung:
>In meinem Beitrag über die Premiere der TURANDOT auf der Augsburger Freilichtbühne ist durch die Formulierung „so wurde alles aufgenommen unf per Lautsprecher eingespielt“ der falsche Eindruck entstanden, es handele sich um eine vorgefertigte Aufnahme. Richtig ist, dass die Oper selbstverständlich live gespielt wurde, aber alles über Verstärker-Anlage übertragen wurde.<
Mit freundlichen Grüßen Werner P. Seiferth