Athens & Epidauros Festival/ Needcompany: The blind poet von Jan Lauwers
Besuchte Vorstellung am 29. Juni 2016
Wanderungen durch Raum und Zeit
Copyright: Maarte Vanden Abeele
Jan Lauwers‘ Needcompany gehört seit vielen Jahren zu den regelmässigen Gästen internationaler Festivals. Die Documenta X, die Salzburger Festspiele oder das Burgtheater präsentierten wichtige Arbeiten des belgischen Theaterkollektivs. Die 1986 von Lauwers und Grace Ellen Barkey gegründete Needcompany bezeichnet als ein Hauptcharakteristikum ihrer Arbeit die transparente, ‚denkende‘ Form der Darstellung, das Paradox zwischen „Acting“ and „Performing“. Dieser Herangehensweise verdanken sich grossartige Theateraufführungen wie die Produktion „Isabella’s room“ (2004), welche vor Jahren auch in Athen zu sehen war.
In ihrer aktuellen Arbeit „The blind poet“ setzt sich das belgische Kollektiv mit dem Thema Migration auseinander. Jan Lauwers notiert zu dem Projekt: „The idea of ‚The blind poet‘ arose when I was visiting the great mosque of Cordoba. […] Cordoba was the capital of that world. Between 300,000 and 1 million people lived there. Women held positions of power and translated Plato, and atheism was common. It had several libraries and more than 600,000 books […].“ Die Blütezeit islamischer Kultur in Andalusien dient also als Ausgangspunkt der Theaterperformance, als Startpunkt für eine Recherche über die multikulturelle Identität Europas. Der Titel des Abends weist nicht nur auf grosse Dichterfiguren wie Homer oder den Syrer Abu al ‚ala al Ma’arri hin, er macht auch gleich den Grundzug der Aufführung deutlich: Wir haben es hier mit poetischen Erzählungen zu tun.
Jan Lauwers und seine Mitspielenden – Grace Ellen Barkey, Jules Beckman, Anna Sophia Bonnema, Hans Peter Melø Dahl, Benoît Gob, Maarten Seghers und Mohamed Toukabri – treten zu Beginn in bunten, orientalisch anmutenden Kostümen (entworfen von Lot Lemm) auf und nehmen vor der Bühne Platz, wo auch einige Instrumente bereit stehen. Grace Ellen Barkey eröffnet den Reigen der Porträts und deklamiert über einige Minuten, teils vom übrigen Ensemble unterstützt, ihren Namen. Dies setzt einen starken Akzent am Anfang. Dann beginnen sich Erzählungen zu entfalten, die weit zurückführen ins Mittelalter und die Zeit der Kreuzzüge und von vermeintlichen Vorfahren der Akteure berichten, von Ereignissen, die unterschiedliche Ahnen zusammenbrachten. Diese Rede von historischen Migrationsbewegungen könnte interessant sein, wenn sie nicht so vage und dramaturgisch eher schlecht verbunden bliebe. Mehr als einzelne Geschichten bleiben Bilder im Kopf, etwa das von einer lebensgrossen Pferdepuppe, die mit einer Apparatur über die Bühne bewegt wird.
Copyright: Maarte Vanden Abeele
Anschaulicher und sinnlicher wird es nach der Pause, wenn drei der Protagonisten nahe Familiengeschichten, d.h. von ihren Eltern erzählen. Nun tritt auch die Musik von Maarten Seghers stärker, das Geschehen strukturierender in Erscheinung. Der Gegenstand wird dabei verständlicher, und dies nicht nur, wenn der Tunesier Mohamed Toukbari von seinen Erfahrungen und seinen Eltern spricht. Gleichwohl bleiben Hinweise auf den Islam und auf Flüchtlinge seltsam unscharf. Man kann den Bezugsrahmen zu diesen Aspekten wie zu den blinden Dichtern nicht wirklich entdecken. Die Darbietung gewinnt zwar an Bildkraft – Benoît Gob etwa ist ein eindrucksvoller Erzähler und Performer -, plätschert aber doch etwas ziellos dahin. Es ist eine bunte Entdeckungsreise in Familiengeschichten, die uns die Needcompany bietet. Gerade aber an den Stellen, wo mit privatem Fotomaterial gearbeitet wird, muss man konstatieren, dass manche Dokumentartheater-Produktion der letzten Jahre mehr aus solchen Geschichten herausgeholt hat. So ist „The blind poet“ ein sehenswerter, aber kein grossartiger Abend.
Ingo Starz