Theaterraum Cartel, Athen
Von Maeusen und Menschen
Besuchte Vorstellung am 9. Februar 2020
Underdogs in Athen
John Steinbecks Roman „Von Maeusen und Menschen“, der das Leben zweier Wanderarbeiter beschreibt, hat leider nichts von seiner Aktualitaet verloren. Menschenunwuerdige Arbeitsbedingungen und Prekariat sind in unseren Tagen wieder oder noch immer brennende Themen. In einem Land wie Griechenland, dessen Bevoelkerung massiv unter den Auswirkungen der Krise resp. der Sparpolitik gelitten hat und leidet, ist das Publikum besonders sensibilisiert fuer solche Themen. So ist es kaum erstaunlich, dass Steinbecks Werk im letzten Winter auf die Buehne eines Athener Theaters kam und wegen seiner fuer hiesige Verhaeltnisse drastischen Darstellungsmittel zum Publikumshit wurde. Momentan laeuft die zweite, voellig ausverkaufte Auffuehrungsserie im Theaterraum Cartel. Da der Kulturbetrieb mitten in einem ausgedehnten Industrieareal gelegen ist, mutiert die Athener Version von Steinbecks Geschichte geradezu zu einer site-spezifischen Arbeit.
Die Grundlage der Auffuehrung, die Uebersetzung und Adaption des Romans hat Sofia Adamidou geleistet. Vasilis Bisbikis ist der Regisseur und zugleich einer der Hauptdarsteller. Er kann mit einem Raum oder besser mit zwei Raeumen arbeiten, deren industrieller Charakter in perfekter Weise zur Thematik des Stuecks passt. Alexia Theodoraki, die Ausstatterin, konnte auf bestehende Architektur zurueckgreifen, auf Raumeinbauten einer ehemaligen Produktionshalle. In der Tat werden die Grenzen zwischen Realitaet und Theater fliessend, wenn man auf diese Buehnensituation blickt. Bevor das Publikum den eigentlichen Buehnenraum betritt, haelt es sich fuer gut 10 Minuten in einer rueckwaertig gelegenen Halle auf, deren grosses, geoeffnetes Tor den Blick nach draussen freigibt. Man lernt die beiden Hauptfiguren, die Wanderarbeiter Vasilis und Lenos, hier kennen, gleichsam auf der Strasse, nach Arbeit suchend. Das ist eine ausgesprochen starke Anfangsszene. Am Hauptspielort, zu dem man nach der Eingangssequenz wechselt, entfaltet sich das Geschehen unter Bisbikis‘ Leitung praezise und temporeich – und mit einer Sprache und Gestik, die beinahe dokumentarisch daherkommen. Die Situation der in prekaeren Verhaeltnissen gefangenen Maenner wird den Zuschauern eindringlich vor Augen gefuehrt, mit harten Worten und Gebaerden. Die Frau des jungen Chefs birgt als Figur die Gefahr ins Theatralische zurueckzufallen, was sich im zweiten Teil des Abends ein wenig bemerkbar macht. Dann wird es bisweilen etwas (zu) sentimental. Dies liegt aber eher an Steinbeck denn an der aktuellen Athener Version. Dem ganzen Team gelingt es auf praegnante Weise, einer alten Geschichte grosse Dringlichkeit zu verleihen.
Das Ensemble wird von Vasilis Bisbikis als Vasilis und Dimitris Drosos als Lenos angefuehrt. Bisbikis zeichnet einen rauhbeinigen, aber warmherzigen, vom Leben gezeichneten Arbeiter, waehrend Drosos fuer den psychisch gestoerten Lenos in beeindruckender Weise eine akustische und gestische Maske findet. Das Zusammenspiel der beiden Schauspieler beruehrt. Daneben tragen auch alle anderen Akteurinnen und Akteure zur glaubhaften Zeichnung des Arbeitermilieus bei: Nikoleta Kotsailidou, Stelios Tyriakidis, Manos Kazamias, Giorgos Sideris, Yanmaz Erdal, Lefteris Agouridas, Angela Patseli und Mara Zaloni. Dem Team von Cartel gelingt eine intensive, ziemlich authentisch anmutende Auffuehrung. Man findet so viel Wirklichkeit sonst kaum auf griechischen Buehnen. Eine wichtige Produktion.
Das Publikum spendet viel Beifall und Bravorufe.
Ingo Starz (Athen)