Poreia Theater, Athen
Verbrechen und Strafe
Besuchte Vorstellung am 30. Dezember 2023
Copyright: Poreia-Theater
Öffentliche Verhandlung
Fjodor Dostojewskis Roman „Verbrechen und Strafe“ hat schon verschiedentlich seinen Weg auf die Bühne gefunden. Regisseurgrössen wie Frank Castorf und Andrea Breth haben sich an dem Text abgearbeitet. Das Athener Poreia Theater ist bekannt für seine Adaptionen literarischer Werke. Dessen Leiter Dimitris Tarlow hat ein gutes Händchen für grosse Stoffe und weiss um diesen Bühnenwirksamkeit zu verleihen. Sein Haus gehört zu den festen Grössen in der Theaterszene der griechischen Hauptstadt. Nun nimmt sich Tarlow einen der bedeutenden russischen Klassiker vor.
„Verbrechen und Strafe“ ist im St. Petersburg der Jahre um 1860 angesiedelt. Es erzählt die Geschichte des armen Jurastudenten Raskolnikow, der an die Vorrechte aussergewöhnlicher Menschen, die über den gemeinen Moralvorstellungen stehen, glaubt oder zu glauben versucht. Dies treibt ihn zum Mord an der Pfandleiherin Aljona Iwanowna und deren geistig behinderter Schwester, die zufällig auftaucht, an. Bei der Vorbereitung der Tat und danach ist er aber von Zweifeln geplagt, die er nur mühsam mit ideologischen Motiven kaschieren kann. Ein Ermittler kommt ihm auf die Spur, Verhöre beginnen, Beweise sind aber nicht aufzubringen. Halt findet der Student bei Sonja, die aus Not als Prostituierte arbeitet. Raskolnikow vertraut sich ihr an, sie rät ihm zum Geständnis, zur Annahme der Strafe. Er stellt sich schliesslich und Sonja folgt ihm nach Sibirien, wo er in ein Arbeitslager kommt. Der Roman lässt offen, ob Raskolnikow am Ende zum christlichen Glauben findet. Um die beschriebene Hauptgeschichte spielen sich Nebenhandlungen ab, wie die vom Gutsbesitzer Swidrigailow, der sich an einer Minderjährigen vergangen hat und von Raskolnikows Schwester Dunja, die er umwirbt, nicht „erlöst“ werden kann und darum im Selbstmord endet.
Dimitris Tarlow und Thanasis Triaridis, der die Textfassung erstellt hat, lassen die Handlung mit dem dritten Verhör von Raskolnikow durch den Ermittler Porfiris beginnen. Dieser Zugriff auf den Stoff breitet das Geschehen als eine Art öffentliche Verhandlung vor dem Publikum aus. Der Held wird befragt und befragt sich selber, er ist gleichsam unter ständiger Beobachtung. Der Einsatz der Kamera auf der Bühne macht dies ganz deutlich und sinnhaft. Als zusätzliche Figur wird Dostojewski eingeführt, der in kurzen Auftritten den Blick des Autors auf die Figur mit ins Spiel bringt. Das Geschehen des Romans ist stark eingedampft und wird auf der Bühne in gut 100 Minuten erzählt. Geschickt und in knapper Form werden die wesentlichen Nebenfiguren – Sonja, die Mutter, Dunja und Swidrigailow – mit Raskolnikow verbunden. In der Bühnenfassung verläuft die Handlung deutlich, d.h. mit symbolischen Zeichen in Richtung einer Hinwendung des Helden zum christlichen Glauben. Der Bühnenraum von Thaleia Melissa lässt sich dem Konzept von Tarlows Inszenierung folgend unterschiedlich lesen – Verhörraum und sakraler Zufluchtsort. Tarlow und Triaridis schaffen es, den langen Roman in eine kurze, szenische Form zu bringen. Man erlebt ein interessantes Gedankenspiel.
Die schauspielerischen Leistungen befinden sich auf einem guten Niveau. Allerdings bewegt sich das Spiel, wie sprachliche und körperhafte Gesten zeigen, in recht traditionellen Formen. Weniger psychologische Einfühlung und mehr postdramatische Distanz würde dem Abend noch mehr Spannung geben und die Befragungen auf der Bühne schärfen und vertiefen. Promitheas Aleiferopoulos ist der Raskolnikow der Aufführung. Um ihn versammeln sich Mitspieler und Mitspielerinnen, die alle zusammen eine ziemlich geschlossene, erfreuliche Ensembleleistung bieten. Man verlässt das Poreia Theater mit positiven Eindrücken und einiger Anregung.
Das Publikum im ausverkauften Theater spendet den Beteiligten am Schluss starken, anhaltenden Beifall.
Ingo Starz (Athen)