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ATHEN/ Onassis Stegi: IN DER EINSAMKEIT DER BAUMWOLLFELDER von Bernard-Marie Koltès

10.02.2023 | Theater

Onassis Stegi, Athen : In der Einsamkeit der Baumwollfelder von Bernard-Marie Koltès
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Foto: Māris Morkāns

Besuchte Vorstellung am 9. Februar 2023

Gespaltene und verdoppelte Realitäten

 

Bernard-Marie Koltès, der früh verstorbene französische Autor, hat mit seinen Stücken zu Lebzeiten für Furore gesorgt. Die radikalen Fragestellungen seiner Werke haben nichts von ihrer Dringlichkeit eingebüsst. Onassis Stegi holt nun eine Produktion des Stücks „In der Einsamkeit der Baumwollfelder“ nach Athen, welche im Mai letzten Jahres in Riga Premiere feierte. Der Regisseur der Inszenierung, der Russe Timofei Kulyabin, stellte sich 2018 im Rahmen des Athens Epidauros Festival mit „Drei Schwestern“ dem hiesigen Publikum vor. Die Tschechow-Produktion überraschte und begeisterte die Zuschauer mit ihrer Beschränkung auf die Gebärdensprache. Man war nun sehr gespannt, welchen Zugang Kulyabin zu Koltès‘ philosophischem Dialog finden würde. 

Der Franzose verhandelt in seinem Text, der in der Tradition ähnlicher Dialoge des 18. Jahrhunderts steht, den Aspekt der Ware. Er lässt einen Händler und einen Käufer auftreten, die in unterschiedlichen Szenen über Waren sprechen, ohne dass diese jemals benannt werden. Die beiden Akteure wechseln sich in den Rollen ab, sie bringen das auf die Bühne resp. zur Sprache, was einen möglichen Warenerwerb begleitet: Begierde und Furcht, Neugierde und Drohung und anderes mehr. Ware kann in dieser Versuchsanordnung alles sein: Gegenstand, Körper, Leben. Das Spiel ist Realität, ist das Leben. Es gibt kein Entkommen – oder doch? 

Der gut einstündige Theaterabend beginnt mit einer Filmsequenz. Ein junger Mann kommt nach Hause, entkleidet sich und masturbiert in einem Akt der Verzweiflung unter der Dusche. Danach fährt die Leinwand nach oben und teilt die Bühne (Ausstattung: Oleg Golovko) fortan horizontal: Unten sehen wir die Schauspieler physisch vor unseren Augen vor einer Reihe von Türen agieren, oben läuft ein Film ab, der das Geschehen live aus verschiedenen Blinkwinkeln abfilmt. Nun geht es um einen älteren Mann und eine ältere Frau. Zeit scheint also verstrichen zu sein. Das ausgefeilte Videodesign von Alexander Lobanov steht ganz im Dienst eines Inszenierungskonzepts, welches einerseits Realität filmisch in ihre menschlichen Partikel – Gebärden und Mimik – auflöst und anderseits mit Räumen hinter den Türen die Gedankentiefe des Texts symbolisch veranschaulicht. Kulyabin entfacht ein faszinierendes, spannungsvolles Spiel um die Essenz des Daseins, um den Austausch von etwas. Sexualität ist in diesem Kontext auch nur ein Warenaustausch oder -erwerb. Nur der Tod bietet Ausgang aus diesem fortwährenden Handel. Es wird gezeigt: Dem Wunsch des Mannes folgend tötet die Frau diesen am Schluss mit einer Rasierklinge. Das kommt schon fast einem Erlösungsakt gleich. 

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John Malkovich, Ingeborga Dapkunaite. Foto: Māris Morkāns

Ingeborga Dapkunaite und John Malkovich gehen ganz in Kulyabin’s Konzept auf. Ihre Körper und Handlungen werden immer wieder in Bilder aufgelöst, in Grossaufnahmen, die von Werben und Begehren, von existanziellen Fragen erzählen. Die Aufführung von Koltès‘ „In der Einsamkeit der Baumwollfelder“ bei Onassis Stegi findet eindringliche Bilder für dringliche Fragen. Die Suchbewegung des Texts findet eine bildstarke Entsprechung in der Inszenierung von Timofei Kulyabin. 

Das Publikum im ausverkauften Theatersaal spendet am Schluss nachdenklich Beifall. Vereinzelte Bravorufe. 

Ingo Starz (Athen)

 

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