Copyright: Andreas Simopoulos für Onassis Centre
Onassis Cultural Centre, Athens
Trajal Harrell: O Medea
Besuchte Vorstellung am 2. Juni 2019
Medea, vom Mythos befreit
Wer Arbeiten des Choreographen Trajal Harrell kennt, wird nicht erwarten, eine gewohnten Mustern folgende Inszenierung von Medea dargeboten zu bekommen. Harrell nimmt in seiner in Athen zur Weltpremiere gebrachten Produktion „O Medea“ Euripides‘ berühmte Tragödie als Ausgangspunkt einer Recherche, die ihn zur Frau und deren Rolle in der Gesellschaft führt. „Ich möchte Medea von der in den Köpfen festsitzenden Idee von Rache und Zorn befreien. Ich betrachte die Tötung der Kinder eher als Metapher. Sie musste die Ideale von Mutterschaft und Ehe töten, um ihr Potential als Frau zu finden, befreit von einer Bestimmung durch Männer.“ So richten Harrell und seine vier Mitstreiterinnen auf der Bühne ihr ganzes Augenmerk auf psychische und physische Zustände der Figur Medea. Die Bühne, welche im Bühnenbild von Erik Flatmo und Trajal Harrel als solche markiert ist, wird zum Schauplatz, wo Inneres nach Aussen gelangt. Und dies geschieht in einer radikal zeitgenössischen Kontextualisierung.
Am Anfang der rund eine Stunde dauernden Performance stehen Gesänge. Wir hören sozusagen hinein in den Epilog des Geschehens, wir erfahren durch die Lieder der Akteure, welche unterschiedlichen kulturellen Kontexten entstammen, das nachwirkende Trauma, welches Medea immer wieder einholt. Dann geht es gleichsam zurück, zum Höhepunkt der (mythischen) Handlung: Die Tötung der beiden Söhne wird symbolhaft und knapp vorgeführt. Pathos hat hier keinen Platz. Was Trajal Harrell viel mehr und eigentlich interessiert, ist das, was diese Tat in der Frau auslöst. Mit wohl eingesetzten Gebärden gelingt es dem Choreographen, die Frauen und sich selber in den nachfolgenden Szenen in verschiedene Gemütszustände zu überführen. Da ist, wie man es kennt oder erwartet, die tiefe Verzweiflung und Trauer über das Getane, dann aber auch ein Triumphieren über die patriarchale Ordnung und schliesslich ein entspanntes Tänzeln, ein Wiegen der Körper im Bewusstsein erlangter Freiheit. Das ist alles einfach und direkt erzählt und konzentriert sich, wie schon bemerkt, in postdramatischer Manier auf die Innenwelt einer Figur. Medea gerät in gewissem Sinn zu einer feministischen Ikone, bleibt aber doch die tragische Figur, als welche wir sie aus dem antiken Kontext kennen.
Copyright: Andreas Simopoulos für Onassis Centre
Trajal Harrell hat für seine Performance wunderbare Mitstreiterinnen gefunden, Titilayo Adebayo, Frances Chiaverini, Maria Ferreira Silva und Vania Doutel Vaz machen das Konzept gleichsam fühlbar. Ihre Körper mutieren zu Resonanzräumen einer Handlung, die den Mythos kaum mehr benötigt. Das Publikum ist teils verwundert, teils entzückt. Am Schluss spendet es wohlwollenden Applaus.
Ingo Starz