Onassis Cultural Centre, Athen: „Die Zeit der Unschuld“ – ein Kapitel aus Doukas Kapantais‘ Science-Fiction Roman „Die Kaiserin“
Besuchte Vorstellung am 26. März 2017
Prüfungen der Lust
Der Regisseur Vassilis Noulas gehört zu denen, die sehr genau in literarische Texte hineinhorchen können. Sein Interesse gilt dabei Prosa und Lyrik, die er feinsinnig in Szene zu setzen vermag. Für das Onassis Cultural Centre bringt er nun unter dem Titel „Die Zeit der Unschuld“ ein Kapitel aus Doukas Kapantais‘ Science-Fiction Roman „Die Kaiserin“ auf die Bühne. Es geht darin um Sexualität und Geschlechterrollen, aber auch um Machtverhältnisse und Gewalt. Ein Hauch von Pornografie findet sich zwischen den Buchzeilen wie auf der Bühne. Und hinter allem scheint die mythische Figur des Ödipus hervor, die nicht erst seit Freud moderne Denker und Künstler beschäftigt hat.
Der Text handelt von einem Ritual, das 17jährige Knaben zu absolvieren haben. Gleichsam im Übergang zum Erwachsenalter erfahren sie ihr sexuelles Erwachen im Beischlaf mit der eigenen Mutter. Und mehr noch, sie erleben und erkunden die Lust, Macht auszuüben, denn die Frau und Mutter ist in diesem Spiel die Vergewaltigte. In dieser (sehr kurz zusammengefassten) Vision des Romans liegt allerhand Potential für Interpretationen. Noulas nutzt diese Versuchsanordnung, welche sich vielleicht als Prüfung der Lust ansehen liesse, für Miniaturen oder besser Etüden über sexuelle Erregung. Der musikalische Begriff geht nicht fehl, weil der Abend, wie stets bei Noulas, auch einem musikalischen Konzept folgt, für das sich to koloritsi koimatai verantwortlich zeichnen. Das Bühnenbild von Kostas Tsimoulis, das Wohnzimmer und Bühnen- resp. Vortragssituation gekonnt verbindet, und die Kostüme von Nana Sachini fügen sich perfekt, weil sinnlich und sinnreich, in das Ganze ein.
Wir sehen also Szenen sexueller Erregung, Masturbation in vielerlei Varianten, wir lauschen der Geschichte vom vorgängig beschriebenen Ritual oder der Musik. Weiterhin erleben wir etwa eine urkomische Performance des männlichen Akteurs, der am Telefon Worte von romantischer Liebe in völlig falschem Ton von sich gibt. Die darin erkennbare Dekonstruktion prägt den ganzen Abend. Wenn man den masturbierenden Schauspielern zuschaut, ist man geneigt zu denken, dass die sexuelle Phantasie vielleicht das Beständigste an der Liebe ist. Das Ensemble macht seine Sache ausgezeichnet: Kostas Koutsolelos, Viky Kyriakoulakou, Alexia Sarantopoulou und Despina Chatzipavlidou erweisen sich allen Erregungszuständen gewachsen. Nach einer etwas zu erwartbaren, Lacher erzeugenden Eingangssequenz gewinnt der Abend bald an Dichte und Tiefe. Vassilis Noulas gelingt ein anregender, lustvoller performativer Essay.
Ingo Starz / Athen