Megaron – The Athens Concert Hall
Ballet Preljocaj: Schwanensee
Besuchte Vorstellung am 10. April 2023
Schwanensterben
Copyright: Ballet Preljocaj
Manchmal kann sich einem ja schon die Frage stellen, ob die Hauptwerke des klassischen Ballettrepertoires dazu verdammt sind, als Museumsstücke an zukünftige Generationen weitergereicht zu werden. Zwar gibt es immer wieder Versuche, diese zu aktualisieren, als überzeugend und nachhaltig erweisen sich jedoch nur wenige. Der Ballettdirektor an der Griechischen Nationaloper, Konstantinos Rigos, ist vor wenigen Jahren mit einer Neuinterpretation von Tschaikowskis „Schwanensee“ kläglich gescheitert. Das französische Ballet Preljocaj zeigte nun im Athener Megaron, dass eine Modernisierung des Klassikers gelingen kann. Es präsentierte an zwei Abenden einen von Angelin Preljocaj choreografierten und schon vielerorts gezeigten „Schwanensee“, ein Werk für 26 TänzerInnen. Es handelt sich bei dieser Arbeit um eine überaus geglückte Symbiose von traditionellen und neuen Formen, um eine Weiterentwicklung dessen, was wir von Marius Petipa und Lew Ivanow kennen.
Die Schwäne sind auch in Preljocajs Choreografie das Herzstück und verweisen hier auf die vom Patriarchat unterdrückten und weggesperrten (und am Schluss zugrundegerichteten) Frauen. Die Herren der Schöpfung erweisen sich als skrupellose Kapitalisten, Siegfried, der empfindsame Sohn eines Konzernchefs, stellt da eine Ausnahme dar. Er ist im Clinch mit dem Vater, der zusammen mit Rothbart die fossilen Bodenschätze des Schwanensees ausbeuten will. Die Neudeutung des Werks zeigt also zwei sich durchdringende Konfliktebenen: den Kampf der Geschlechter und der durch Industrialisierung verursachte Raubbau an der Natur. Das eindrucksvolle Videodesign von Boris Labbé erlaubt schnelle und fliessende Ortswechsel, zeigt Hochhausfassaden und Börsenkurse ebenso wie Naturidyll und herannahende Bagger und Kräne. Der Schluss der Handlung markiert Zerstörung: Verlust des Seebiotops und Schwanensterben. Die Handlung des Balletts zieht am Betrachterauge gleich einem Film vorüber.
Copyright: Ballet Preljocaj
Doch, was wäre ein „Schwanensee“ ohne aussergewöhnlichen Tanz, ohne starke, aus Körpern geformte Bilder? Es ist interessant wie Preljocaj Elemente überlieferter Bewegungssprache mit Neufindungen verbindet. Er hat sich zu seinem Vorgehen einmal sehr interessant in einem Interview mit Angès Izrine geäussert: „Ich fand es interessant, mich auf manche Merkmale von Marius Petipas und Lew Ivanows Choreografie zu stützen, wie ein Palimpsest. Als würde ich ein Oppidum betreten und auf den historischen Fundamenten eine neue Stadt errichten. Es gibt einige Teile, mit denen ich große Freude hatte, etwa mit dem Weißen Akt. Diese demonstrativen Momente sind wahrhaft berauschend und ich habe sie in Form von kleinen Nummern festgehalten, um sie neu zu erschaffen. In Wahrheit ist die Choreografie aber nicht nach Marius Petipa, da ich sie komplett umgearbeitet habe. Es handelt sich um keine strukturelle Neuordnung, sondern um eine eigenständige neue Choreografie. Der wahrscheinlich beste Weg, um Marius Petipa zu ehren, ist, sich mit seinem kreativen Prozess wiederzuvereinigen und die Dinge neu zu erfinden.“
In der Tat sprüht Preljocajs Choreografie vor Kreativität. Da sind einerseits wunderschöne Gruppenbewegungen im Schwanenakt, welche das Publikum erwartet, aber andererseits auch mechanisch-maschinell anmutende Gebärden, die das Unternehmertum charakterisieren. Und da sind Ausbrüche aus dem überlieferten Handlungsschema, Momente von postdramatischem Tanz, in denen das Publikum anderer Facetten der Figuren oder ironischen Kommentaren ansichtig wird. Dann ist es auch, wenn die Musik ihren gewohnten Pfad verlässt und neben Tschaikowski der Sound von 79D erklingt. In solchen Momenten sieht man etwa, wie sich Siegfried im Clubtanz Befreiung vom Alltagsdruck verschafft, wie die Schwäne/Frauen sich über die Männerwelt lustig machen oder sich Rothbart vor den Konzernverantwortlichen als starker Mann in Szene setzt. Alles fügt sich in Angelin Preljocajs „Schwanensee“ zu einem sinnreichen und energetischen Ganzen. Man erlebt an diesem Abend, wie ein kreativer und innovativer Umgang mit einem Klassiker aussehen kann.
Das Publikum in der ausverkauften Alexandra Trianti Hall des Megaron feierte am Schluss alle Beteiligten.
Ingo Starz (Athen)