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ATHEN/ Hochschule derbildenden Künste: MAUSER von Heiner Müller

11.01.2017 | Theater

Hochschule der bildenden Künste, Athen: MAUSER

Besuchte Vorstellung am 10. Januar 2017

 Figurationen einer revolutionären Bewegung

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Copyright: Hochschule der bildenden Künste Athen

 Heiner Müllers Stücke gehören nicht zu den einfachen Texten der Theaterliteratur. Ihre Sprache verlangt den Interpreten wie dem Publikum einiges ab. Diesen Winter nehmen gleich drei Athener Theatergruppen diese Herausforderung an und bringen Müller auf die Bühne: So sind nebeneinander die Werke „Quartett“, „Der Auftrag“ und „Mauser“ zu sehen. Im Theatersaal der Hochschule der bildenden Künste nimmt sich eine junge Truppe unter Leitung des Regisseurs Klimis Ebeoglou dem 1970 entstandenen Stück „Mauser“ an.

 Heiner Müller merkte zu seinem Stück an: „MAUSER, geschrieben 1970 als drittes Stück einer Versuchsreihe (…) setzt voraus/kritisiert Brechts Lehrstücktheorie und Praxis.“ Dabei geht er wie Brecht davon aus, das die Spielenden praktische politische Lehren aus dem Spiel zu gewinnen vermögen. Zieht man Brechts Lehrstück „Die Massnahme“ heran, in dem ein Revolutionär in seine Tötung einwilligt, weil er durch Mitleid mit Einzelnen die illegale revolutionäre Arbeit der Gruppe in Gefahr brachte, sieht man den Unterschied. Das Selbstopfer (und somit auch die revolutionäre Bewegung) stellt bei Brecht niemand in Frage. In Müllers „Mauser“ hingegen haben wir es mit dem Revolutionär A zu tun, der beim Töten der Feinde der Revolution zur hemmungslosen, lustvoll agierenden Henker wurde: „In seinem Nacken die Toten beschwerten ihn nicht mehr.“ Als Konsequenz auf sein politisches Versagen fordert der Chor/die Gruppe sein Einverständnis mit der eigenen Tötung. Die Frage von A an die Revolution nach dem Menschen bleibt, weil „zu früh“ gestellt, unbeantwortet. Ob er am am Schluss, wenn er mit dem Chor die Worte „Tod den Feinden der Revolution“ spricht, sein Einverständnis gibt, bleibt fraglich. Müller kritischer Blick auf die Revolution wurde in der DDR als „konterrevolutionär“ eingestuft, so dass „Mauser“ dort bis 1988 verboten war.

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Copyright: Hochschule der bildenden Künste Athen

 Die Inszenierung von Klimis Ebeoglou lässt sich ganz auf die Versuchsanordnung der Vorlage ein und bringt ein eindrucksvolle szenische Choregrafie auf die Bühne. Der anspruchsvolle Text wird in Sprechakten und mit elektronischem Sound rhythmisiert und strukturiert. Sieben auf fahrbaren Gestellen präsentierte Porträts zeigen einzelne Individuen, Kämpfer der Revolution und erlauben gleichzeitig eine Anonymisierung der Akteure, wenn diese nämlich gleichsam dahinter verschwinden. Die fixe Konstellation eines Einzelnen, der sich gegenüber einer Gruppe zu verantworten hat, gerät in dieser Aufführung in dauernde Bewegung, welche meint, dass dem Text Fragen und Einwände einverleibt werden. Dabei gelangt sowohl das bekannte Gebärdenspiel revolutionärer Praxis zum Einsatz wie auch das direkte körperliche Interagieren, wenn es nämlich um den Akt des rasenden Tötens geht und damit um den Auslöser dieses ‚Anti-Lehrstücks‘. Das exzellente Spiel von Evelyn Assouad, Dimitris Dimitropoulos, Angeliki Zisoudi und George Kissandrakis trägt die kluge Inszenierung über alle Fallstricke des komplexen Texts hinweg. Dem jungen Team gelingt eine bemerkenswerte Deutung von Müllers „Mauser“, welche sehr klar die Frage nach dem Menschen im revolutionären Geschehen stellt und darauf mit spannenden szenischen Kommentaren bzw. Invektiven antwortet. Ein höchst lebendiger und engagierter Heiner Müller-Abend, der zeigt, dass die Frage nach dem Menschen eine dauerhafte bleibt.

 Ingo Starz

 

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