Gruechisches Nationaltheater, Athen / Schauspielschule des Nationaltheaters/Openair
Aristophanes/Lena Kitsopoulou: Die Wespen
Besuchte Vorstellung am 7. September 2023
Griechenland am Pranger
Chrome.jpg
Das Griechische Nationaltheater bringt alljährlich zwei Produktionen im antiken Theater von Epidauros heraus. Dieses Jahr kamen zwei Regisseurinnen zum Zug: Katerina Evangelatou mit Euripides und Lena Kitsopoulou mit Aristophanes. Wurde die Inszenierung der Erstgenannten gefeiert, löste die andere tumultartige Szenen im ehrwürdigen Theater aus. Nun ist Kitsopoulous Arbeit im Openairtheater der Schauspielschule des Nationaltheaters zu sehen. Die Regisseurin und Schauspielerin ist bekannt dafür, dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt. Provokativ sind ihre Theaterarbeiten häufig, aber ebenso theatralisch interessant. Man durfte gespannt sein, wie Kitsopoulous freie Adaption von Aristophanes‘ Komödie „Die Wespen“ daherkommt und wie das Athener Publikum darauf reagiert.
Aristophanes‘ Komödie nimmt sich das Athener Justizwesen vor, das von der Prozesssucht vieler Bürger und Korruptionsfällen gekennzeichnet ist. Der wichtigtuerische Richter Philokleon ist einer, der mit seinem Griffel Urteile fällt, die wie Wespenstiche daherkommen. Dabei missbraucht er seine Macht durchaus desöfteren. Um diesem Treiben ein Ende zu setzen, sperrt sein Sohn Bdelykleon den Richter in seinem Haus ein. Mit der Darstellung der häuslichen Haft beginnt Lena Kitsopoulous Inszenierung. Man sieht den an die Kette gelegten Philokleon in heftigem Streit mit seinem Sohn. Es geht unter anderem um die Vorbereitungen zu einem Fest. Für eine kurze Weile bleibt die Regisseurin nah an Aristophanes – doch dann bricht eine Welle an Opfern und Tätern, an Klägern und Angeklagten in diese Welt ein. Und man findet sich konfrontiert mit vielen Problemen und Fragen der griechischen Gegenwart. Verstörend und gewalttätig ist der zu besichtigende gesellschaftliche Kosmos. Es geht hierin um Polizeigewalt, Diskriminierung von Homosexuellen, Schwarzen und Fettleibigen, Raub an einem Touristen, eine schwierige Mutter-Sohn-Beziehung und anderes mehr. Als Zuschauer verliert man bisweilen den Faden, kann sich aber durchaus an dem drastisch in Szene gesetzten Treiben erheitern. Die Bühne präsentiert sich bei alledem als Ort umherirrender, scheinbar zielloser Gestalten. Kitsopoulous stellt mit ihren „Wespen“ Griechenland, genauer dessen Gesellschaft an den Pranger.
Man kann der Inszenierung formale, textliche Schwächen vorwerfen. Doch vermutlich hat auch das bisweilen eintretende Chaos Methode. Der griechische Alltag ist ja nicht dafür bekannt, bestens strukturiert zu sein. Und es steht ausser Frage, dass Kitsopoulou einige grosse theatrale Momente gelingen. Dazu trägt auch die ebenso bunte wie freche Ausstattung von Magdalena Avgerinou bei, die vom Basketballkorb bis zum Schlafsack vieles bietet. Darüber hinaus muss gesagt werden, dass in diesem Land, hier und heute ein Bedarf daran besteht, Missstände auszusprechen. Kitsopoulous Inszenierung dient ganz im Sinne Aristophanes‘ der Wahrheitsfindung – gerade weil sie auch deutlich zeigt, wie Menschen wegschauen und die Wahrheit verbiegen. Die Regisseurin bringt ein tolles Ensemble, das von Thodoris Skyftoulis als Philokleon angeführt wird, auf die Bühne. Die MusikerInnen bieten ebenfalls eine bemerkenswerte Show. Lena Kitsopoulou beendet schliesslich die eineinhalbstündige Aufführung mit einem wütenden Gesang, der erklärt, warum sie tut, was sie tut. Sie macht den Abend damit auch zu einem persönlichen Bekenntnis.
Das erschienene Athener Publikum bringt den „Wespen“ viel Zustimmung entgegen und spendet kräftigen Applaus.
Ingo Starz (Athen)